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Der Große Fall (German Edition)

Der Große Fall (German Edition)

Titel: Der Große Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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einem östlichen Land. Und er war im weglosen Wald als Trauernder; um zu betrauern. Seine Frau war ihm gestorben, nicht erst vor kurzem, schon vor langer Zeit, und nicht hier, sondern damals in beider gemeinsamem Land. Und daß der Mann vor einem Paar sehr junger, wie von ihm selber gepflanzter Birken stand, das hieß, er feierte so zugleich, nach dem Brauch in seiner Heimat, für sich alleine das Pfingstfest, oderfeierte es nach. Die Frau und er hatten sich als Kinder kennengelernt und einander versprochen. Weder er noch sie war mit jemand anderm zusammen gewesen, oder, wie es bei ihnen daheim hieß, »gegangen«. Sie waren ohne Kind geblieben, das kam nicht in Frage, und tatsächlich hatte kein Dritter je danach gefragt. Die jungen Birken, auch sie in der Zweizahl, vor denen der alte Mann stand, und zwar seit Stunden, wenn nicht seit der vergangenen Nacht, waren im anderen Land abgehackt – aus dem nahen Wald geholt – und flankierten dort die Eingangspforte zu ihrer beider eingeschossigem kleinem Bauernhof. Wenn die Birken dort freilich, vielleicht schon am Pfingstmontag, zu welken angefangen hätten, so blieben sie hier grün, und würden so weiter und weiter grünen, und grünen, und das Pfingstfest könnte von dem Verwitweten begangen werden bis in den späten Oktober hinein. Betete er? Konnte man sein stummes Wachestehen ein Gebet nennen? Man konnte. Das Birkenlaub hatte geflimmert, ein Flimmern noch verstärkt durch die Regentropfen an den Blattspitzen, woran dem Schauspieler zum ersten Mal an diesem Tag, im Abglanz, die Sonne augenfällig geworden war, welche schon seit längerem hoch im Sommerhimmel stand. Der Anzug des alten Mannes war an den Ärmeln und unten an der Hose ausgefranst gewesen, in seinem Nacken wölbte sich einriesiges Geschwür, an einer der Birken lehnte eine Krücke, an der Aktentasche zu seinen Füßen fehlte der Verschluß, an einem seiner Schuhe die Sohle, an seinem Rock alle Knöpfe bis auf den einen, der an einem Faden herunterhing, sein Scheitelwirbel war verklebt von Schorf.
    »Der letzte der Menschen«, sagte der Schauspieler laut zu sich selber, »so oder so. – Ja, soll das denn heißen, daß es aus ist mit den Menschen, aus mit mir und den Leuten, mit der Menschenwelt? Kann das denn sein? Darf das denn sein? Darf das denn wahr sein? Nein, das darf nicht sein, darf nicht wahr sein.« Und wieder dann: »Paß auf, was du so daherredest, und sei’s nur für dich allein. Daherreden ist nicht bloß Daherreden, Sagen ist nicht bloß Sagen, Worte, selbst die unausgesprochenen, sind nicht bloß Worte. Kusch, Freund!«

3
    In der Folge kam er aus dem Wald ins Freie, wenn auch nicht in einen der Ausläufer der Metropole, sondern hinaus auf eine Lichtung, welche die Vorstellung schuf, jetzt erst recht in die Wälder, und zwar genau in deren Mitte vorgestoßen zu sein. War das Gras um das Anwesen der Frau hüfthoch gewesen, so ging es ihm hier bis zur Brust. Das Licht war eines wie eben nur auf einer Lichtung, und es wehte ein belebender Wind, in welchem der Flaum von den abgeblühten Disteln, inselartigen Stellen im Gras, so langsam wie stetig durch den Lichtungsluftraum trieb. Kein Adler mehr im Himmel, kein Falke, der mit einem Gellen vorbeigepfeilt wäre, nichts als das die ganze Lichtung füllende Ein-Ton-Tönen der Sommergrillen tief unten im Gras, tief unten aus dem – wie hieß das? – Erdreich. Das Herz, es wurde so weit, wie es war. Und die Frau kam ihm in den Sinn. Wahr: Er liebte sie wohl nicht. Aber mit ihr zusammen sah er sich geschmückt. War das denn nichts? Er hatte Zeit. Noch hatte er Zeit; nichts Menschenwürdigeres. »Hallo, Wolken!«
    Die Menschenleere hielt an auf der großen Lichtung; da, so nah an allem, noch spürbarer; und je länger sie anhielt, umso staunenerregender. Man war dabei nicht aus der Welt. Die andern, es gab sie – nur wehe, sie träten auf!
    Verflucht! Da kamen sie schon, einer, dann noch einer, dann gleich mehrere auf einmal, dann ein ganzer Schock der Leibhaftigen. Es war, als habe, wie vorher das Bild vom Adler im Sommerhimmel und von der ebenda herabspiralenden Falkenfeder, allein der Gedanke an die Mitmenschen sie auf den Plan treten lassen. Nur was dort als eine Wunscherfüllung gewirkt hatte – »Erscheine!« –, war hier eine bildlose Vermischung, welche das genaue Gegenteil hervorrief, ebenso wie in der Folge das »Verschwindet!«: es wurden ihrer, auf dem Fuße, mehr und mehr.
    Der Wind, eben noch so sanft im brusthohen Gras,

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