Der Große Fall (German Edition)
fauchte. Die Grasähren stachen in die Achselhöhlen und brannten wie Nesseln. Das Zirpen der Grillen kam zwar weiterhin von sämtlichen Horizonten, hörte sich aber an wie ein einstimmiges Wutknirschen. Er versuchte, wegzuschauen von den die, seine, Lichtung Bevölkernden, hinab auf seine Fingernägel. Die schienen im Zusehen zu wachsen und sich zuzuspitzen, ebenso wie die Haare auf demHandrücken von Blick zu Blick länger wurden, sich kräuselten, kleine Insekten, ohne sein Zutun, einfingen, welche sich dann verstrickten und auf der Stelle zugrunde gingen.
Von ihnen, den Händen, den Nägeln weggeschaut. Hinauf zum Himmel, oder sonstwohin? Nein, nirgendwohin als zurück zu den Leuten, die kreuz und quer allmählich die ganze Lichtung besetzten. Er konnte nicht mehr von ihnen wegschauen, wie sehr er es auch wollte. Was sie von sich sehen ließen, war nämlich nicht schön. Oder es erschien ihm wenigstens nicht so. Und das betont Unschöne war, wieder im Unterschied zu dem und der im Schauspielerberuf, nicht seine Sache. Nicht, daß er betont das Schöne darstellen oder anklingen lassen wollte. Aber nie und nimmer das Unschöne (das nicht notwendig zusammenfiel zum Beispiel mit etwas schön Häßlichem): da war ihm nichts darzustellen und zum Klingen zu bringen. Und vielleicht drängte es ihn doch allein nach dem Schönen?
Das Unschöne, dagegen, es bedrängte. Indem man ihm nicht auskam – unmöglich, wegzuschauen und wegzuhören –, schnürte es ein, verengte, verzerrte, verletzte, beleidigte, und man wurde selber unschön, Teil des Unschönen, dessen Auswuchs, insbesonderein dessen zwanghafter Nachahmung. Der Schauspieler war weder in seinem Fach noch außerhalb je ein Mann der Nachahmung gewesen. Er verachtete das Nachahmen und die Nachahmer. Schon in seiner Schulzeit hatte er von dem Erfolg des kleinen Meisters der Nachahmung – eine jede Klasse hatte so einen aufzubieten – gering gedacht, und wenn er als einziger darüber nicht lachen konnte, galt er, gerade er, als ein Spielverderber. Nachmachen war für ihn keine Kunst, und er glaubte an die Kunst, auch wenn er nicht, jedenfalls nicht aus dem Stand, hätte sagen können, was die war. Nachahmen oder nachäffen war keine. Und doch unterlief das Nachäffen manchmal auch ihm, und ausschließlich außerhalb seines Berufs, und jedesmal zu seinem Unglück und, wie ihm vorkam, zu seiner Schande. Es unterlief ihm, das hieß: sein Nachahmen geschah nicht aus freien Stücken. Und er äußerte es schlecht; bei ihm, dem Schauspieler, Sprecher, Zuschauer – sein Schauen und Zuschauen bestimmten das Bild und den Ton –, neunmal so schlecht. Das Nachmachen fuhr, unschön, äffisch, aus ihm. Und es änderte in seinen Augen nichts an seiner Schande, daß er dabei in der Regel nur sich selber sah oder hörte. Sein konvulsivisches Nachahmen des ihn anspringenden Unschönen sollte ihn davon erlösen, und übel, der Üble wurde statt dessen er selber. Keiner außer ihmwar bisher freilich Zeuge davon geworden, bis auf einmal, seinerzeit, sein da kaum erst sprechfähiger Sohn. »Nicht, Vater«, war von dem gekommen, »nein!« Oder bildete er sich jetzt, im Gedanken an die jähe Angst, fast ein Entsetzen, in den Augen des Kindes, dieses Sprechen bloß ein?
Was war das Unschöne an den Leuten, welche wie auf ein Stichwort die Lichtung usurpierten? Als er sich später an jenem Sommertag die Frage stellte, hatte er schon keine Antwort mehr. Die Abstoßung war eine auf den ersten Blick gewesen. Weil die andern so viele waren? Er wußte sich, zeitweise, am Platz unter vielen (nur nicht, zum Beispiel, im Theater, oder auf Festen, und schon gar nicht, wie das ihm für den Abend bevorstand, wenn er selber der Mittelpunkt sein sollte). Es war der erste Blick, der entschied – nicht was an den Leuten, die über die gerade noch paradiesisch menschenleere Lichtung ausschwärmten, so abstieß, sondern daß das Abstoßende, das beleidigend Unschöne eine unumstößliche Tatsache war, die keine speziellen Erscheinungsformen brauchte.
Mit dem zweiten, dritten Blick undsoweiter sprangen, als sei das naturgemäß, dann die Details in die Augen, in Gestalt von Indizien, und es war ihmspäter, als habe er selber diese erzeugt, mit seinem Blick, der ihn die Menschen, wie sie da und da, und dort und dort zwischen den Waldbäumen heraus ins weizenährenhohe Lichtungsgras stießen, als Auswuchs erleben ließ? So oder so: Daß sie erschienen, das durfte nicht wahr sein, und wie sie sich dann
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