Der große Fetisch
Devgran ist sein Prophet.«
»Wer ist Devgran?«
»Richtig ausgesprochen heißt er David Grant. Er war der Alte, der zur Zeit der Herabkunft Mnaenn gründete.«
»Und das dort ist der Tempel?« fragte Marko und zeigte auf das Bauwerk mit der Kuppel.
»Gewiß«, sagte Sinthi.
»Was befindet sich in ihm?«
»Er beherbergt den großen Fetisch Einsteins.«
»Ich habe von ihm gehört«, sagte Marko. »Können wir uns den Fetisch ansehen?«
»Aber nein! Fremde dürfen ihn nie sehen. Wir halten einmal im Jahr einen besonderen Gottesdienst ab, und bei der Gelegenheit wird er aufgedeckt.«
»Was ist dieser Fetisch?« fragte Marko.
»Ach, ich darf Ihnen das, glaube ich, nicht sagen.«
»Ein Standbild, nicht wahr?« sagte Halran unschuldig. »Ein goldenes Standbild Einsteins, das in der einen Hand einen Berg und in der anderen einen Donnerkeil hält …«
»Nein«, rief Sinthi, »Einstein ist reiner Geist und ohne Leib und kann nicht dargestellt werden.«
»Ach, dann muß man mich falsch unterrichtet haben«, sagte Halran. »Dann stimmt die Geschichte, daß er eine geometrische Figur mit Edelsteinen an den Ecken …«
»Nichts dergleichen! Der Fetisch ist ein Stapel Kisten, etwa so hoch.« Sie hielt eine Hand etwa einen Meter hoch. »Jede Kiste …« Sie legte sich die Hand auf den Mund. »Ihr vom Festland seid doch zu schlau für mich!«
»Nun, also«, sagte Halran mit väterlicher Stimme, »da wir jetzt schon soviel wissen, können Sie uns ruhig den Rest auch noch erzählen. Wir haben ja durchaus nicht vor, den heiligen Gegenstand zu beschädigen oder zu entweihen.«
»Nun, jede Kiste besteht aus einem durchsichtigen Material, das wie Glas aussieht, jedoch biegsam ist, und in jeder Kiste befindet sich ein Stapel Karten, etwa handtellergroß. Diese Karten sehen wie gesprenkelt aus, aber soweit man sehen kann, steht nichts Geschriebenes auf ihnen. In der Prophezeiung Anjlas heißt es jedoch, daß die Herrschaft der Hexen von Mnaenn zu Ende sein wird, wenn ein männliches Kind der Insel Mnaenn die Weisheit der Alten auf den Karten des Fetisches lesen wird. Aber das ist natürlich unmöglich.«
»Wieso?« sagte Marko.
»Anjla hat die Prophezeiung vor Hunderten von Jahren ausgesprochen. Die Stringiarchin befahl sofort, daß jedes männliche Kind bei der Geburt zu töten sei, anstatt es wie früher zu verkaufen, damit die Herrschaft der Hexen nie beendet würde.«
»Deshalb«, meinte Marko, »laßt ihr Hexen euch von euren Besuchern die Kinder zeugen.«
»Ja. Ich habe aber noch keinen gehabt. Die älteren Hexen kommen zuerst an die Reihe. Und wenn die Besucher bei ihnen gewesen sind, haben sie kein Interesse mehr, sich mit uns jüngeren abzugeben.«
Marko schnalzte mißbilligend mit der Zunge. Das müßte wirklich ein kolossales Mannsbild sein, das sich von oben durch die ganze Hierarchie bis nach unten arbeiten könnte.
In der Dämmerung erklang eine Trompete, und Gestalten rannten näher. Eine Laterne mit einem Spiegel tauchte Marko und Halran in einen Lichtschein.
»Ergebt euch!« rief eine hohe Frauenstimme im Dialekt von Mnaenn. »Laß die Axt fallen, Fremder, oder wir spicken dich mit Pfeilen.«
Marko sah, daß unter den näher kommenden Frauen einige waren, die gespannte Armbrüste trugen. Auf die Entfernung konnten sie selbst im Zwielicht kaum ihr Ziel verfehlen. Keiner der beiden Männer trug einen Harnisch. Selbst wenn sie jetzt noch fliehen könnten, würden sie nicht ohne Helfer, die ihnen beim Füllen des Ballons beistanden, von der Insel kommen.
»Die haben uns«, sagte Halran. »Ach, warum habe ich mich nur auf dieses überstürzte Abenteuer eingelassen …«
Marko zog die Axt aus dem Futteral und ließ sie zu Boden fallen.
»Los! Bewegt euch!« rief die hohe Stimme.
»Meine Dame«, sagte Marko, »wir sind nur harmlose Reisende, die …«
»Ruhe!«
Die Häuser in der Stadt waren klein, aber gut gebaut und bestanden aus dem schwarzen Basalt, der sich auf der Insel fand. Sie duckten sich flach zur Erde, als hätten die Erbauer gefürchtet, sie könnten von einem Wirbelsturm davongeblasen werden.
In den Türen tauchten weitere Hexen auf, die mit unverhohlener Neugier die Gefangenen anstarrten. Marko schnappte Bemerkungen über seinen Körperbau und dessen mutmaßliche Vorzüge auf, die ihn bis in die Ohren rot werden ließen.
Sie näherten sich dem Tempel in der Mitte der Stadt, und die Häuser wurden stattlicher. Der Tempel war ein riesiges Gebäude, das die anderen Bauwerke der Stadt um
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