Der große Gatsby (German Edition)
als ich, und mit Abstand das begehrteste junge Mädchen in Louisville. Sie kleidete sich in Weiß und hatte einen kleinen weißen Roadster, und den ganzen Tag über klingelte bei ihr das Telefon, weil aufgeregte junge Offiziere vom Camp Taylor um die Gunst bitten wollten, sie an diesem Abend – »wenigstens für eine Stunde!« – ganz für sich allein zu haben.
Als ich an diesem Morgen auf der Höhe ihres Hauses ankam, parkte der weiße Roadster am Randstein, und sie saß mit einem Leutnant darin, den ich noch nie gesehen hatte. Die beiden waren so ineinander versunken, dass sie mich erst bemerkten, als ich zwei Meter entfernt von ihnen stehenblieb.
»Hallo, Jordan«, rief sie unerwartet. »Komm doch mal her.«
Es schmeichelte mir, dass sie mit mir sprechen wollte, denn unter allen älteren Mädchen bewunderte ich sie am allermeisten. Sie fragte mich, ob ich zum Roten Kreuz gehen und Verbände machen würde. Ja, sagte ich. Ach, ob ich dort wohl Bescheid geben könne, dass sie heute nicht kommen werde? Der Offizier schaute Daisy so an, wie jedes junge Mädchen einmal angeschaut werden möchte, und weil ich es so romantisch fand, habe ich diesen Vorfall bis heute im Gedächtnis behalten. Er hieß Jay Gatsby, und ich sah ihn danach über vier Jahre nicht wieder; selbst als ich ihm jetzt auf Long Island begegnete, merkte ich nicht, dass es derselbe Mann war.
Das war 1917. Im darauffolgenden Jahr hatte ich selber ein paar Verehrer und begann, Turniere zu spielen, deshalb traf ich Daisy nicht allzu oft. Sie verkehrte mit etwas älteren Leuten – wenn sie überhaupt mit jemandem verkehrte. Es kursierten wilde Gerüchte über sie; angeblich hatte ihre Mutter sie eines Nachts mitten im Winter dabei ertappt, wie sie ihre Tasche packte, um nach New York zu fahren und einem Soldaten Lebewohl zu sagen, der sich nach Europa einschiffen wollte; daran konnte sie zwar gehindert werden, aber dafür sprach sie wochenlang kein Wort mehr mit ihrer Familie. Danach amüsierte sie sich nicht mehr mit den Soldaten, sondern bloß noch mit ein paar plattfüßigen, kurzsichtigen Männern aus der Stadt, die keine Aussicht hatten, überhaupt zum Militärdienst zu kommen.
Im Herbst darauf war sie wieder vergnügt, vergnügt wie eh und je. Nach dem Waffenstillstand feierte sie ihr Debüt, und im Februar verlobte sie sich dem Vernehmen nach mit einem Mann aus New Orleans. Im Juni heiratete sie Tom Buchanan aus Chicago, mit mehr Pomp und Gepränge, als Louisville es je zuvor erlebt hatte. Er kam mit einhundert Leuten in vier privaten Eisenbahnwaggons angereist und mietete eine ganze Etage des Seelbach-Hotels, und einen Tag vor der Hochzeit schenkte er ihr eine Perlenkette, deren Wert auf dreihundertundfünfzigtausend Dollar geschätzt wurde.
Ich war eine der Brautjungfern. Als ich eine halbe Stunde vor dem Hochzeitsdiner in ihr Zimmer kam, lag sie in ihrem geblümten Kleid auf dem Bett, schön wie die Juninacht – und blau wie eine Strandhaubitze. In der einen Hand hielt sie eine Flasche Sauterne und in der anderen einen Brief.
»’glückwünsch mich mal«, murmelte sie. »Hab noch nie was getrunken, aber ’s tut ja sooo gut.«
»Was ist los, Daisy?«
Sie jagte mir Angst ein, das kann ich Ihnen sagen; ich hatte noch nie ein Mädchen in so einem Zustand gesehen.
»Hier, Süße.« Sie wühlte in einem Papierkorb, den sie bei sich im Bett hatte, und zog die Perlenkette heraus. »Nimm sie mit runter, und gib sie dem Kerl wieder, dem sie gehört. Und sag all’n, Daisy hat sich’s anders überlegt. Sag: ›Daisy hat sich’s anders überlegt!‹«
Sie fing an zu weinen – sie weinte und weinte. Ich rannte hinaus und holte das Dienstmädchen ihrer Mutter, und wir schlossen die Tür ab und steckten sie in die kalte Badewanne. Den Brief wollte sie nicht hergeben. Sie nahm ihn mit in die Badewanne und drückte ihn zu einer nassen Kugel zusammen und erlaubte mir erst, ihn in die Seifenschale zu legen, als sie sah, dass er sich in kleine Flöckchen auflöste wie Schnee.
Aber sie sagte kein Wort mehr. Wir gaben ihr Salmiakgeist und legten ihr Eiswürfel auf die Stirn und hakten sie wieder in ihr Kleid ein, und als wir eine halbe Stunde später aus dem Zimmer gingen, trug sie die Perlen um den Hals, und der Zwischenfall war vorüber. Am nächsten Tag, nachmittags um fünf, heiratete sie Tom Buchanan, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und kurz darauf brachen sie zu einer dreimonatigen Reise in die Südsee auf.
Ich traf sie nach ihrer
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