Der große Gatsby (German Edition)
tiefen karmesinroten Leuchten die Qualen seines gebrochenen Herzens linderten.
»Ich werde Sie heute um einen großen Gefallen bitten«, sagte er und steckte seine Andenken befriedigt wieder ein, »und deshalb wollte ich, dass Sie das eine oder andere über mich wissen. Ich will nicht, dass Sie mich für einen hergelaufenen Niemand halten. Sehen Sie, ich bewege mich meistens unter Fremden, weil ich rastlos umherziehe, um das erwähnte traurige Erlebnis zu vergessen.« Er zögerte. »Sie werden heute Nachmittag davon erfahren.«
»Beim Mittagessen?«
»Nein, heute Nachmittag. Ich weiß zufällig, dass Sie mit Miss Baker zum Tee verabredet sind.«
»Soll das heißen, Sie sind in Miss Baker verliebt?«
»Nein, alter Knabe, bin ich nicht. Aber Miss Baker hat sich freundlicherweise bereit erklärt, die Angelegenheit mit Ihnen zu besprechen.«
Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was für eine »Angelegenheit« das sein mochte, aber ich verspürte eher Ärger als Neugier. Schließlich hatte ich Jordan nicht zum Tee gebeten, um mich mit ihr über Jay Gatsby zu unterhalten. Ich war sicher, dass es sich bei dem Gefallen um etwas ganz und gar Irrwitziges handelte, und einen Moment lang bereute ich es, je meinen Fuß auf seinen übervölkerten Rasen gesetzt zu haben.
Er sagte kein weiteres Wort. Je näher wir der Stadt kamen, desto förmlicher wurde er. Wir ließen Port Roosevelt, wo wir einen Blick auf rotgegürtete Ozeandampfer erhaschten, hinter uns und rasten über das Kopfsteinpflaster eines Armenviertels, vorbei an den finsteren, unverwüstlichen Schenken des blassgoldenen vergangenen Jahrhunderts. Dann erstreckte sich links und rechts von uns das Tal der Asche, und im Vorbeifahren sah ich kurz Mrs. Wilson, die sich lebhaft keuchend an der Zapfsäule abmühte.
Mit ausgebreiteten Kotflügeln streuten wir Licht durch halb Astoria – nur halb, denn als wir uns zwischen den Pfeilern der Hochbahn hindurchschlängelten, hörte ich das charakteristische »Pfut-pfut- paff « eines Motorrads, und ein aufgebrachter Polizist holte uns ein.
»Na schön, alter Knabe«, rief Gatsby. Wir bremsten. Gatsby zog eine weiße Karte aus seiner Brieftasche und wedelte damit vor den Augen des Mannes herum.
»Alles klar«, sagte der Polizist und tippte sich an die Mütze. »Nächstes Mal erkenne ich Sie gleich, Mr. Gatsby. Nichts für ungut!«
»Was war das?«, erkundigte ich mich. »Das Bild aus Oxford?«
»Ich konnte dem Polizeichef einmal eine Gefälligkeit erweisen, und seitdem schickt er mir jedes Jahr eine Weihnachtskarte.«
Weiter über die große Brücke, wo das durch die Streben fallende Sonnenlicht über die fahrenden Autos flackerte, während jenseits des Flusses die Stadt aufragte, weiße Häufchen und Zuckerstücke, alle auf Wunsch mit geruchlich unverdächtigem Geld gebaut. Die Stadt von der Queensboro Bridge aus sehen heißt immer wieder sie zum ersten Mal sehen, wenn sie einem im ersten Überschwang alle Geheimnisse und alle Schönheit der Welt verheißt.
Ein Toter in einem mit Blumen überhäuften Leichenwagen zog an uns vorbei, gefolgt von zwei Wagen mit heruntergezogenen Rouleaus und ein paar fröhlicheren Gefährten für die Freunde. Die Freunde schauten mit den traurigen Augen und schmalen Oberlippen Südosteuropas zu uns heraus, und ich war froh, dass ihr düsterer Feiertag nun den Anblick von Gatsbys funkelndem Wagen einschloss. Als wir über Blackwells Island hinwegfuhren, überholte uns eine Limousine mit einem weißen Chauffeur am Steuer, in der drei modisch gekleidete Schwarze saßen, zwei junge Männer und ein Mädchen. Ich lachte laut auf, als sie voll hochmütiger Rivalität das Weiße ihrer Augäpfel in unsere Richtung rollten.
›Jetzt, wo wir die Brücke hinter uns gelassen haben, ist alles möglich‹, dachte ich, ›einfach alles…‹
Sogar Gatsby war möglich, ohne ein besonderes Wunder.
Brüllende Mittagshitze. In einem wohlklimatisierten Keller in der zweiundvierzigsten Straße traf ich Gatsby zum Essen. Nachdem meine Augen die Helligkeit der Straße fortgeblinzelt hatten, machten sie ihn undeutlich in der Vorhalle aus, wo er sich mit einem anderen Mann unterhielt.
»Mr. Carraway, das ist mein Freund Mr. Wolfshiem.«
Ein kleiner, flachnasiger Jude hob seinen großen Kopf und musterte mich mit zwei feinen, in beiden Nasenlöchern üppig gedeihenden Haarbüscheln. Einen Moment später entdeckte ich im Halbdunkel seine winzigen Augen.
»…ein kurzer Blick genügte…«, sagte Mr. Wolfshiem
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