Der große Gatsby (German Edition)
als er Dan Codys Jacht über der heimtückischsten Untiefe des Lake Superior vor Anker gehen sah. James Gatz war es, der am Nachmittag mit zerschlissenem grünem Pullover und Segeltuchhosen am Strand entlangschlenderte, doch der Mann, der sich kurze Zeit später ein Boot auslieh, zur Tuolomee ruderte und Cody warnte, in der nächsten halben Stunde werde ihn womöglich ein Wind erfassen und kentern lassen, war Jay Gatsby.
Ich vermute, er hatte den Namen damals schon lange parat gehabt. Seine Eltern waren Farmer ohne Ehrgeiz und Erfolg gewesen; im Geiste hatte er sie eigentlich nie als seine Eltern angesehen. Die Wahrheit war, dass Jay Gatsby aus West Egg, Long Island, seiner eigenen platonischen Idee von sich selbst entsprang. Er war ein Sohn Gottes – und wenn diese Wendung überhaupt etwas bedeutet, dann genau das –, und er musste im Auftrag Seines Vaters einer grandiosen, vulgären, dirnenhaften Schönheit dienen. So erfand er einen Jay Gatsby, wie ihn nur ein siebzehnjähriger Junge erfinden konnte, und blieb dieser Idee bis zum Ende treu.
Über ein Jahr lang hatte er sich am südlichen Ufer des Lake Superior durchgeschlagen und für Kost und Logis als Muschelsucher, Lachsfischer oder Ähnliches verdingt. Sein brauner, immer zäher werdender Körper bestand das teils harte, teils träge Tagwerk an der frischen Luft mühelos. Früh lernte er die Frauen kennen, und da sie ihn verwöhnten, sah er bald auf sie herab – auf die Jungfrauen wegen ihrer Ahnungslosigkeit, auf die anderen, weil sie sich über Dinge ereiferten, die er in seiner sagenhaften Selbstverliebtheit als gegeben hinnahm.
Doch sein Herz befand sich in andauerndem, wildem Aufruhr. Des Nachts in seinem Bett suchten ihn die groteskesten und absonderlichsten Vorstellungen heim. In seinem Kopf entspann sich ein Universum von unfassbarem Pomp, während die Uhr auf dem Waschtisch tickte und der Mond seine unordentlich am Boden liegenden Kleider mit nassem Licht tränkte. Nacht für Nacht schmückte er seine Wunschbilder weiter aus, bis die Schläfrigkeit die so lebhaft ausgemalten Szenen in die Arme des Vergessens schloss. Eine Zeitlang dienten ihm seine Träumereien als Ventil für seine Phantasie; sie waren ihm Hinweis genug auf die Unwirklichkeit der Wirklichkeit und bezeugten, dass der Fels der Welt sicher auf einem Feenflügel ruhte.
Eine instinktive Ahnung von seinem künftigen Ruhm hatte ihn einige Monate zuvor an das kleine lutherische College St. Olaf im Süden Minnesotas geführt. Er blieb zwei Wochen dort – die grausame Gleichgültigkeit gegenüber den Trommeln seines Schicksals, ja gegenüber dem Schicksal selbst empörte ihn, und seine Arbeit als Hausmeister, die ihm das Studium finanzieren sollte, war ihm verhasst. Danach gondelte er zurück an den Lake Superior, und an jenem Tag, als Dan Codys Jacht in den Untiefen vor der Küste Anker warf, wusste er immer noch nicht recht, was er machen sollte.
Cody war damals fünfzig Jahre alt und hatte sein Glück in den Silberminen Nevadas und am Yukon und überhaupt durch jedes Edelmetall-Fieber seit 1875 gemacht. Seine Geschäfte mit Montana-Kupfer, durch die er zum mehrfachen Millionär geworden war, hatten ihn körperlich gestählt, aber an den Rand des Schwachsinns gebracht – unzählige Frauen merkten das und trachteten ihm nach dem Vermögen. Die nicht eben geschmackvollen Tricks, mit denen die Journalistin Ella Kaye wie eine zweite Madame de Maintenon seine Schwäche ausnutzte und ihn mit einer Jacht zur See schickte, waren den Revolverblättern von 1902 sattsam bekannt. Fünf Jahre war Cody an allzu gastlichen Ufern entlanggesegelt, bevor er als James Gatz’ Schicksal in Little Girl Bay aufkreuzte.
Für den jungen Gatz, der auf seine Ruder gestützt zur Reeling hinaufschaute, repräsentierte diese Jacht alle Schönheit und allen Glanz der Welt. Ich vermute, er lächelte Cody an – er wusste wahrscheinlich schon, dass die Menschen ihn mochten, wenn er lächelte. Jedenfalls stellte Cody ihm ein paar Fragen (eine davon entlockte ihm den brandneuen Namen) und merkte, dass er schlagfertig und über die Maßen ehrgeizig war. Ein paar Tage darauf nahm Cody ihn mit nach Duluth und kaufte ihm ein blaues Jackett, sechs Paar weiße Leinenhosen und eine Seglermütze. Und als die Tuolomee mit Kurs auf die Karibischen Inseln und die Barbary Coast in See stach, war auch Gatsby an Bord.
Er war in unbestimmter persönlicher Funktion angestellt – solange er bei Cody blieb, diente er abwechselnd
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