Der grosse Horizont
Haid sich die Schuhe putzen. Von der Holzwand lachten Filmstars, auf einem der Illustriertenbilder war Joe Louis in Boxerstellung abgebildet. Der Neger machte sich ohne Eile daran, die Schuhe zu reinigen. Für Haid war es ein seltsames Gefühl, in dieser dunklen Nische zu sitzen und ein Gesicht zu machen, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit, daß jemand ihm zu Füßen kniete und den Schmutz von seinen Schuhen bürstete. Er hätte gerne mit dem Neger gesprochen, aber er fand nicht die richtigen Worte. Wahrscheinlich ließ er sich die Schuhe aus Mitleid und Neugierde putzen, denn er hatte den Anblick auf einem Stuhl sitzender Weißer, welchen von Neger-Boys die Schuhe geputzt werden, stets gehaßt. Aber für jemanden, der diesen Anblick von Kindheit an gewöhnt war, mußte es keine Besonderheit darstellen, selbst Platz zu nehmen und zuzusehen, wie ihm ein Neger die Schuhe reinigte. Er erfand für sich eine Geschichte, indem er sich vorstellte, daß ein fetter Geschäftsmann absichtlich in Hundekot trat, um sich mit Genuß von einem Neger den Kot entfernen zu lassen. Aber obwohl Haid dem Neger gerne mitgeteilt hätte, daß er lieber mit ihm sprechen würde, als sich von ihm die Schuhe reinigen zu lassen, wußte er nicht, welchen Rat er ihm hätte geben sollen. Es kam ihm dumm vor, von Revolution zu reden, obwohl er sich in diesem Augenblick wünschte, der Neger möge aus seiner Lethargie erwachen und eine Bank in die Luft sprengen. Aber gleichzeitig empfand er ein Schuldgefühl, und er stellte sich die Frage, was ihn berechtigte, diesen Wunsch zu haben. Für den Neger, hätte er etwas von Haid gewußt, wäre sein Tun vermutlich etwas Abstoßendes gewesen: Bücher zu lesen, Wein zu trinken, gut zu essen und eine Enttäuschung mit einer Reise überwinden zu wollen. Was Haid am meisten bedrückte, war gerade diese Hilflosigkeit, die ihn stumm bleiben ließ. Er führte einen ununterbrochenen Kampf um seine Existenz, sah gleichzeitig das Unrecht und hatte keine Kraft, ja nicht einmal den Willen, sein Leben zu ändern. Darüber hinaus hatte er keine Idee, auf welche Weise er sein Leben ändern sollte. Genügte es einfach, eine Philosophie zu bejahen und Menschen zu bemitleiden, genügte es, einer Gesellschaft vorzuwerfen, sie sähe zu, wie ein Teil der Menschen andere Menschen ausnützte, während die Ausgenützten keine Macht besäßen, diesen Zustand zu ändern und dann mit dem eigenen Leben wieder auf diese Weise fortzufahren, daß man danach trachtete, aus allem einen Vorteil für sich zu ziehen? – Diese Hilflosigkeit hatte Haid traurig gemacht. Er blickte vom Rücken des Negers auf und sah auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Friseurladen, in dessen mit großen Buchstaben beschrifteter Auslage er sich selbst als schemenhaftes Spiegelbild erkennen konnte. Der Friseurladen war leer, und zwei Männer in weißen Kitteln blickten aus dem Hintergrund des Geschäfts desinteressiert auf die Straße. Vor dem Friseurladen drehte sich eine blau-weiß-rote Rolle in einem Glasrohr. Der Neger war mit seiner Arbeit fertiggeworden, und als Haid ihm ein Trinkgeld gab, dankte er ihm lachend. Haid hatte die Absicht, sich nicht weiter aufzuhalten, und ging schnell davon. In einem kleinen Park sah er eine weiß gestrichene Kirche mit spitzen Türmen im grünen Gras. Die Häuser waren einstöckig und weiß. Plötzlich bemerkte Haid, wie kalt und hell das Licht war. Die Sonne ging langsam unter. Er ließ die Kirche hinter sich und ging die steil bergan führende Greenwich Street in dem tödlich-surrealen Licht hinauf. Die Straße war leer, und die Häuser schienen von den Menschen verlassen zu sein. Nur auf einem Basketballplatz, der tiefer als die Straße zwischen ungestrichenen Betonmauern lag, spielten schreiende Kinder. Das Licht warf schneeweiße Partikel in Haids Augen und blendete ihn. Er fand, daß das Licht etwas Künstliches an sich hatte, als würde es von einer Neonsonne ausgestrahlt, deren Schein alles verfremdete und die Dimensionen zerriß. Als Haid vor dem Haus Nr. 643 anhielt, drehte er sich um und blickte auf die Straße zurück. Vor einigen Häusern parkten Autos, an den Fenstern war niemand zu sehen. Er betrachtete das Haus, vor dem er stand und den kleinen Toyota, an dessen Lack er erkennen konnte, daß er vor kurzem an einem Unfall beteiligt gewesen sein mußte. Ein eisiger Wind wehte die Straße hinunter. Er trat in das Haus und läutete an der einzigen Glocke, die er
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