Der grosse Horizont
Daumen zuckte, aber er fühlte sich leicht wie Luft.
16
Die Sonntage hatte Haid oft verwünscht. Sie schienen ihm leer und ohne Leben, langweilig und am besten zum Schlafen geeignet. Die Menschen waren am Sonntag voller Gier, etwas Besonderes zu erleben. Haid saß barfuß im Pyjama an einem Tischchen und schlang das Frühstück hinunter. Er mußte sich am Morgen zwingen, etwas zu essen. Er stocherte in einer Portion Harn and Eggs, ließ sie stehen und beschmierte eine Scheibe Toast mit farbloser Kirschmarmelade. Nach dem Frühstück duschte er sich. Beim Abtrocknen begann die Haut zu jucken. Haid hatte dies häufig nach einem Bad oder einer Dusche, und er war unglücklich darüber. Krampfhaft versuchte er an etwas anderes zu denken, an Carson und Mehring, an seinen Daumen, der vor Nervosität gezuckt hatte, an das Fenster im gegenüberliegenden Haus, aber sobald er nur für den Bruchteil einer Sekunde daran dachte, schien sich der Juckreiz auf der Brust und an den Armen zu verstärken. Er zog sich an, spazierte mit juckender Haut zum Chinesenviertel und durchquerte es auf kürzestem Wege. Aber die Wiederholung der Wahrnehmungen beruhigte ihn und nahm ihm sein Hautjucken, als hätte er ein Medikament genommen. Er trat in die nächstbeste Bar am Broadway, bestellte Gin mit Orangensaft und ließ seinen Blick über die lange Reihe Schnapsflaschen mit den bunten Etiketten wandern, über die Gläser, die umgedreht und in den verschiedensten Formen, wie gläserne Blumen auf dem schwarzen Plastikbrett standen, auf die Registrierkasse vor dem Spiegel, die zwischen den Flaschen aufgestellt war, auf die Nummer 619, die er in Spiegelschrift auf einer Glasscheibe über der Bartüre entdeckte, drei große Ziffern, die durch das auftreffende Tageslicht hell leuchteten. Neben ihm saß eine gespenstisch magere Frau, das Gesicht gepudert, die Augenbrauen abrasiert und mit einem dünnen Stift gezogen, die Stirne glatt, aber die Wangen voller Falten, die Hände dünn, mit Nikotinflecken auf dem Zeigefinger. Ein kleiner Mann unterhielt sich mit ihr, sie stand auf, kreischte, und Haid sah ihre Beine, die dünn wie Bleistifte schienen. Zu Haids Verblüffung begann sie zu singen. Ihre Iris war milchig getrübt und ihre Tränensäcke überschwemmten die Augäpfel mit Sekretflüssigkeit, daß sie darin herumzuschwimmen schienen. Sie sang drei Takte und klatschte dazu mit den Händen. Der Barkeeper kam heran und legte eine Visitenkarte neben sein Glas. Auf der Visitenkarte stand: Spivey’s Swiss Chalet, Cocktail Lounge.
Ein paar Minuten später hatte die magere Frau Spivey’s Swiss Chalet, ohne daß Haid es bemerkt hatte, verlassen und der Barkeeper zeigte ihm ein Bild, das zwischen den Flaschen stand: »Das war sie«, sagte der Barkeeper. »Eine schöne Frau. Die Bar hat ihr gehört.« Er stellte das Bild pedantisch zurück. In der Ecke saß ein schweigend lächelnder Chinese im Anzug, das Sakko über den Arm gelegt und rauchte Zigaretten.
17
Benommen vom Sonnenlicht auf der Straße, mußte Haid erst nachdenken, wo er sich befand. Er ging auf gut Glück ein Stück in die Richtung, in der er die Greenwich Street vermutete, sah die gleichartigen Häuser, die ansteigende Straße, konnte aber das gesuchte Haus nicht finden. Auf dem Gehsteig saßen zwei Mädchen in der Sonne. Als er näher trat, sah er, daß vor einem Mädchen eine Plastikkassette mit bunten Zwirnsrollen lag und das Mädchen einen Knopf annähte. Das andere Mädchen aß Kuchen aus einer Schachtel. Haid fragte nach der Greenwich-Street, und das Mädchen bot ihm Bier, das in einer Pepsi-Cola-Flasche abgefüllt war, an. »Sind Sie nicht aus San Francisco?«
»Nein. Los Angeles«, sagte Haid.
Das Mädchen erklärte ihm den Weg und sagte dann: »Ich glaube Ihnen nicht. Sie kommen nicht aus Los Angeles.« Haid ging wortlos davon und stellte sich vor, Philipp Marlowe zu sein.
Wenn er sich vorstellte, Philipp Marlowe zu sein, bemühte er sich, ein starres Gesicht zu machen, und auch seine Bewegungen verlangsamten sich. Er hörte, wie die Mädchen hinter seinem Rücken lachten, aber er tat so, als würde ihn das nicht berühren. Sein Gesicht entspannte sich, und er steckte die Hände in den Staubmantel, um seine Verlegenheit nicht zu zeigen. »Ich entkomme mir nirgendwo«, dachte er.
18
Mehring erwartete ihn nervös, mit einem halbausgeschütteten, tropfenden Glas Slibowitz. Er setzte ihn mit Carson in den Fond seines Toyota und fuhr los.
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