Der grosse Horizont
entdeckte.
13
Mehring war dick geworden und glatzköpfig und seine nervöse Intelligenz hatte sein Wesen vollends durchdrungen. Sie ließ ihn nicht ruhig sitzen, Sätze anfangen und nicht vollenden, Themen in andere Themen umkippen, es schien, als stünden seine Gedanken und seine Verpflichtungen in einem ununterbrochenen Konflikt. Er sprach, stand auf und stellte Tee zu, unterbrach sich und erzählte irgendeine Geschichte über den Lebensmittelhändler, bei dem er den Tee gekauft hatte, erklärte die Vorteile und Nachteile verschiedener Teesorten und kehrte zu seinem ursprünglichen Thema zurück. Dann fiel ihm ein Witz ein, den er, solange er den Tee servierte, nicht vollendete und – nachdem Haid einen Schluck getrunken hatte – wieder von vorne begann, um einen bereits erzählten Teil auszulassen und nur noch die Pointe hinzuwerfen, da ihm im selben Augenblick ein neuer Gedanke kam, den er übergangslos an die Pointe anschloß, als gehörte der neue Gedanke zum Witz. Auf einem Ledersofa saß eine Studentin, die bei Mehring in Untermiete wohnte, neben ihr ein Chinese, der schweigend lächelnd der Unterhaltung folgte. Als während des Gesprächs eine Pause entstand, sagte Mehring, daß in einem Gespräch jeder nur auf das Stichwort warte, bei welchem er von sich selber reden könne. Der andere soll nur die richtigen Stichworte geben, »wie bei diesen Jahrmarktartisten, die als Bauchredner auftreten und dazu eine Puppe brauchen«. Er lachte auf und machte eine Handbewegung: »Ich werde das Paprikahuhn warm machen. Früher bin ich häufiger essen gegangen, aber hier: Wenn man billig essen will, gibt es immer nur das gleiche – « Er verschwand in die Küche. Der Chinese lächelte freundlich an ihm vorbei. Haid blickte aus dem Erkerfenster hinaus. Er dachte, daß die Studentin mit dem Chinesen schlief. Niemand sprach etwas. Die Studentin sprang auf und verließ mit einem Aufseufzen das Zimmer. Haid war sich nicht sicher, ob das Aufseufzen etwas mit ihm zu tun hatte, vielleicht hatte sie erwartet, daß er mit ihr sprechen würde oder daß er ihr zulächelte wie der Chinese, weiß der Teufel, er mochte das Spiel nicht. Wenn ihm nichts einfiel, wollte er schweigen. Mehring steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Kommst du in die Küche? Das ist übrigens Cheek«, sagte er und wies auf den Chinesen. »Habe ich dir Cheek vorgestellt? Wir essen allein, Carson geht mit Cheek fort.«
Haid fühlte, daß sein Daumen nervös zuckte. Er verabschiedete sich von dem Chinesen und Carson und folgte Mehring in die Küche. Mehring holte einen der Gewürzbehälter von der altmodischen Kredenz, auf der Glasfläschchen, Konservenbüchsen, Schachteln und Dosen standen und stellte sie auf den Tisch.
»Pfeffer«, sagte er, »du kannst nachwürzen.« Er machte sich an der blechgerahmten Abwasch zu schaffen, neben der an der Wand verschiedene Kücheninstrumente wie zur Dekoration aufgehängt waren: Schöpfer, Siebe, eine messingfarbene Kuchenform, eine Pfanne, Quirl, Kochlöffel, ein Schaumschläger, ein hölzernes Brett, eine Bratengabel. Haid war müde, ihm war ein wenig übel und sein Daumen zuckte. In der Küche war es angenehm dämmrig, da das einzige Fenster auf einen Hinterhof hinausführte. Ihm kam im Augenblick alles vor wie eine Filmvorschau, er sah einzelne bewegte Bilder, die ohne Zusammenhang waren, den er sich erst im Kopf zusammendichten mußte.
»Ich tu alles nur, um mich selbst von mir zu überzeugen«, sagte Mehring. »Ich bin ohne Überzeugung.« Er setzte sich zu Haid an den Tisch und begann zu essen. »Ja«, sagte Haid, »das kenne ich. Ich behaupte etwas und lasse mir durch eine Frage bestätigen, daß es stimmt, auch wenn ich daran, während ich gesprochen habe, glaube.«
»Ja, ja. Nimm Brot. Schmeckt es dir? Jeder Satz, der falsch ist, sollte wie eine schmerzhafte Berührung sein. Oder als ob man sich mit einem Hammer auf den Finger schlägt. Gefällt dir San Francisco? New York ist viel schmutziger. Ich mag New York nicht, du wirst ja sehen. Ist es zu scharf? – Nein, das, was du gesagt hast, ist ganz richtig. Ich zum Beispiel lüge sehr schnell. Man will den anderen immer in Staunen versetzen. Man kann es nicht Lüge nennen – eher Übertreibung. Ich beginne dann weiter zu übertreiben, da ich das, was ich einmal gesagt habe, nicht mehr zurücknehmen will. Ich übertreibe so lange, bis jeder kapiert hat, daß es sich nur um einen Witz handelt.«
»Bei mir ist das nur der Fall«, entgegnete
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