Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
Vom Netzwerk:
Haid, »wenn ich etwas ernst meine und ich bemerke, daß es mich lächerlich macht. Vor Menschen, die mir Angst machen, spreche ich überhaupt nur in Witzen.«
    Mehring dachte nach. »Wie schmeckt dir das Pilsner«, sagte er dann. »Ist es zu kalt? Ich habe es direkt aus dem Kühlschrank genommen.« Er stand auf und holte eine Flasche Slibowitz von der Kredenz, goß zwei Gläser ein und stellte eines davon vor Haid. Dann trank er das Glas leer und blickte ihn an: »Manchmal stelle ich eine Frage, obwohl mich die Antwort gar nicht interessiert, nur, um Aufmerksamkeit vorzutäuschen. Ich schreibe gerade an einem Buch über das Rollenverhalten. Ich hab mir schon eine Menge Notizen gemacht. Willst du sehen?« Er ging in das Schlafzimmer und kehrte mit einem dicken Stoß Notizen zurück, die er vor Haid aufschichtete. Haid blätterte in den Notizen. Auf einem der Zettel stand der Satz: Darf ich das überhaupt empfinden?
     
     
14
     
     
    Bis zum Abend erzählte Mehring von seinen Beobachtungen und Überlegungen, und Haid richtete seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Gewürz- und Marmeladenbehälter. Manchmal sprach er stockend von sich, als probierte er seine Gedanken, bevor er sie aussprach, an, wie fremde Kleidungsstücke. Er sah, daß es draußen dunkel geworden war, und fühlte eine unbestimmte Sehnsucht, geliebt zu werden. Mehring sprach über soziale Utopien, ging auf und ab, suchte ungeduldig einen bestimmten Notizzettel und las ihn vor. Er behauptete, daß die Menschen alle Erfahrungen an einem utopischen Modell mäßen. Haid, der das Gespräch beenden wollte, erklärte, ohne auf einen bestimmten Zusammenhang anzuspielen, daß Stifter zu lesen für ihn dasselbe sei, wie von einer utopischen Welt zu lesen. Für ihn sei Stifter ein Science Fiction Autor. Auch die Idylle sei als soziale Utopie anzusehen. Im »NACHSOMMER« hätten die Menschen das Gefühl, das Rechte zu tun, und daß ihr Tun schöpferisch sei. Er wollte von sich sprechen, aber es kam ihm plötzlich vor, als würde er sich aufdrängen. Mehring fragte ihn unvermittelt über das Leben in Wien aus und machte – als Carson zurückgekehrt war – den Vorschlag, in ein Cafe am Broadway zu gehen.
     
15
     
     
    Die Häuserwände waren zu glitzernden Lichtkaskaden aufgeblüht. Haid war, als sei der Frühling über diese Wände hereingebrochen, mit neuerfundenen, künstlichen Blumen, die ihn betören sollten. Eine Blondine lächelte ihn vom Nebentisch herüber an. »Ich will ein harmonisches Lebensgefühl. Sie verstehen, Harmonie«, sagte Carson. »Frieren Sie?«, fragte Haid. »Ja, mir ist kalt.«
    Haid legte den Arm um sie. Carson lehnte sich an ihn und spielte mit einem Finger auf der Tischplatte. Eine Blumenhändlerin kam vorbei und bot Nelken zum Kauf an. Automatisch kaufte Haid einige Blumen und legte sie vor Carson. Carson beugte sich zu Haid hin, küßte ihn auf die Wange und verkroch sich frierend in den Mantel.
    Eine starke Gefühllosigkeit war über Haid gekommen, die ihn lockerte und sorgloser machte.
    »Heute ist St. Patricks-Tag«, rief die blonde Frau vom Nebentisch herüber.
    »Sie ist betrunken«, sagte Carson.
    Haid zog Carson an sich, küßte sie auf den Mund und fühlte, wie sie ihn öffnete. Mehring bezahlte, stand auf und wollte gehen. Haid folgte ihm widerspruchslos, aber Carson hielt ihn zurück.
    »Wir bleiben noch einige Minuten«, sagte sie scharf. »Selbstverständlich, Carson«, sagte Mehring und setzte sich wieder. »Wir haben keine Eile.«
    »Nein, wir haben Zeit.«
    »Ich sagte schon, wir haben keine Eile«, antwortete Mehring mit gespielter Gelassenheit und wandte sich Haid zu. »Du hast noch etwas Gin im Glas.«
    Haid trank folgsam aus. Dann sagte er: »Ich bin müde.«
    »Sie wollen gehen?«, fragte Carson.
    »Ja, ich bin sehr müde«, antwortete Haid. Er wollte eine lange Erklärung hinzufügen, um nicht abweisend zu wirken, schwieg aber. Er verabschiedete sich, überquerte den Broadway, winkte einem Taxi zu und fuhr zu seinem Hotel. Vor dem Hotel bekam er Lust, noch etwas zu trinken. Er betrat einen kleinen Laden, auf dessen Auslagenscheibe in Schnörkelschrift ZIMS stand, trank eine Tasse Kaffee und betrachtete die Gäste in der langen Spiegelwand hinter der Theke. Beim Hinausgehen steckte er einige Päckchen Reklamezündhölzer ein und bemerkte, daß er den Zimmerschlüssel bei sich hatte. Als er dann in seinem Hotel aus dem Lift stieg, verlor er kurz die Orientierung und verirrte sich in den grünen Gängen. Sein

Weitere Kostenlose Bücher