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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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näher war als der Schuhputzer, aber er glaubte, daß diesen eine ebenso nebulose Vorstellung dazu treiben konnte, ein Geschäft auszurauben oder jemanden niederzuschlagen, wie McClure eine Glockenblume oder ein zahmer Hase hinreißen konnten zu glauben, er sei sich selbst einen Schritt nähergekommen. Haid ließ sich selbst dazu hinreißen, alles in derselben Weise zu sehen und zu verarbeiten wie McClure und darum war ihm, als begegnete er sich selbst. Die magische Versenkung in die Natur schien ihm notwendig, genauso wie es für ihn notwendig war, sich mit dem Schuhputzer zu beschäftigen.
    Vielleicht ging es darum, eine Synthese aus McClure und einem Revolutionär zu schaffen, einem wachen Geist, der die Entwicklung der Gesellschaft mit derselben Sensibilität registrierte wie ein Kunstwerk oder die Natur.
     
     
21
 
     
    Es ist bemerkenswert, wie leicht mir der Haß gegen die Technik, gegen die Zivilisation von den Lippen geht, dachte Haid, als er über die steile Treppe hinunterstieg. Er stürzte beinahe, konnte sich aber noch am Holzgeländer festhalten. Auf der Straße schwitzte er vom schwarzen Kaffee, denn er war es nicht gewöhnt, Kaffee zu trinken. Es war bereits dunkel. Während Mehring dahinfuhr, begann sich Haid immer elender zu fühlen. Am Rand eines Parks bat er aussteigen zu dürfen. Er lief aus dem Wagen und übergab sich unter einem Baum. Mehring kam ihm nach und reichte ihm eine Schachtel Papiertücher. »Ich vertrage keinen Kaffee«, sagte Haid. »Du solltest deinen Magen untersuchen lassen. Ist es schon besser? Ich wollte noch zu Cassler. Er ist hier Dozent.«
    »Ich hab noch nichts gegessen. Ich hatte keinen Hunger«, sagte Haid.
    »Mein Gott! Wir bekommen dort sicher etwas zu essen! Geht es wieder? Mach deinen Kragen auf. Wenn einem übel ist, sollen die Arterien am Hals frei sein.«
    »Ich würde gerne ins Hotel zurückfahren«, sagte Haid. Sie stiegen ein und fuhren an. Der Himmel war ohne Wolken und Haid sah die Sterne und dachte an McClure. Die Sterne machten ihn friedlich und klein, und seine Einsamkeit störte ihn nicht mehr. Die Erde, auf der er dahinfuhr, war 4000 Millionen Jahre alt. 4000 Millionen Jahre! Diese Zahl war für ihn plötzlich voller Beziehungen. Er lehnte sich zurück und war glücklich.
     
     
22
     
     
    Cassler war groß, schlank und glatzköpfig und trug eine runde Brille.
    »Ihm war nicht gut«, sagte Mehring entschuldigend und deutete auf Haid.
    »Ich mache Ihnen Tee, warten Sie«, sagte Cassler. Er führte ihn in das Haus, in ein geräumiges Zimmer mit einem riesigen Fenster, von dem aus man auf die Stadt sehen konnte. »Setzen Sie sich ruhig auf den Boden«, sagte Cassler. »Ich war gerade dabei, das Kaminfeuer anzumachen. Anne wird Ihnen den Tee bringen. Sind Sie krank?«
    »Nein, nein«, antwortete Haid.
    »Ich habe zu starke Gefühle«, dachte er. »Wenn man zu starke Gefühle hat, wird man lächerlich. Aber vielleicht sollte ich meine Gefühle nicht so sehr beachten. Vielleicht schenke ich ihnen zu viel Aufmerksamkeit.«
    Casslers Frau kam auf ihn zu und drückte ihm eine Tasse heißen Tee in die Hand. Der erste Schluck tat ihm wohl.
    Er stand auf und setzte sich an den Tisch, auf dem in verschiedenen Schüsseln kleine Tomaten, hartgekochte Eier, grüner Salat, Oliven, Butter und unter einem weißen Tuch aufgebackene Sandwiches lagen.
    Cassler erklärte, wie wichtig die Auswahl der Nahrung für den geistigen Zustand des Menschen sei. Alles, was auf dem Tisch stehe, sei biologische Nahrung. Er kaufe sie in einem Spezialgeschäft. Er fühle sich ungeheuer wohl, seit er kein Fleisch mehr esse. Vor kurzem habe er es versucht, aber es wieder ausgespuckt. Fleisch schmecke nach nichts und mache aggressiv. »Man kann aus Gemüse herrliche Gerichte zubereiten«, sagte er. Wenn man nur Gemüse esse, werde man mit Sicherheit sensibler. »Nicht nur mein Körper, auch mein Geist fühlt sich reiner. Ich bin kein Fanatiker. Mir ist es egal, was die anderen machen. Ich fühl mich jedenfalls großartig.« Er bot Haid eine Zigarette an.
    Haid rauchte vorsichtig. Eine Jüdin, die ihm gegenüber saß, fragte ihn, was er vom Nationalsozialismus halte. Ihre Eltern seien aus Deutschland geflohen, sagte sie. Seither sei zu Hause nie mehr deutsch gesprochen worden.
    »Können Sie deutsch?«, fragte Haid.
    »Ich habe es vergessen«, antwortete sie.
    Kurze Zeit später schlug Mehring vor, aufzubrechen.
    Als sie vor dem Hotel anhielten, sah Haid, daß es aus den Kanälen dampfte,

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