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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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und ihm fiel ein, daß er dies schon öfters gesehen hatte, ohne daß er seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatte.
     
     
23
     
     
    Er erwachte um acht Uhr und hörte aus den Straßengeräuschen, daß es regnete. Die Autoreifen verspritzten Wasser auf dem Asphalt, und in den Momenten der Stille hörte er den Regen rauschen. Er schaltete den Fernseher ein, döste zwischendurch ein, sah einen Film, der immer wieder durch Werbespots unterbrochen wurde und drehte schließlich ab. Das Efeublatt in seinem Koffer fiel ihm ein, er stand auf, öffnete den Deckel und sah, daß es vertrocknet war. Daraufhin verlor er das Interesse an dem Blatt und warf es in den Papierkorb.
    Eine Stunde später spazierte er zum Hafen. Als er den Zimmerschlüssel in der Portiersloge abgegeben hatte, war ihm ein Zettel übergeben worden, auf dem eine Telefonnummer notiert war, darunter stand: »Rufen Sie mich an. Carson.« Haid hatte den Zettel eingesteckt. Er genoß es, den Zettel einzustecken und nichts zu unternehmen. Wie oft war Philipp Marlowe in eine Falle gelockt worden und nur dadurch entkommen, weil er nichts unternommen hatte. Es hatte zu regnen aufgehört. Haid fotografierte ein verziertes, hellgrünes Bürohochhaus, mit eisernen Baikonen und Feuerleitern und von Jalousien und riesigen, weißen Vorhängen verdeckten Fenstern. Auf einem der Fenster war ein gelbes Schild befestigt, auf dem CAMERA CLINIC-EXPERT Repair Service stand. Philipp Marlowe würde dieses Bild als letzte Aufnahme in einer Kamera finden, die neben der Leiche eines Ermordeten lag und herumrätseln, welche Bedeutung der Fotografie zukam. Er würde das Haus betreten, eine Kamera vorlegen und ersuchen, sie zu reparieren. Ein Mechaniker würde herauskommen und sagen: »Ich finde keinen Fehler, Sir.«
    »Ich möchte den Chef sprechen«, würde Marlowe antworten.
    Der Chef würde ein geschniegelter Bursche, mit schwarzem, pomadisiertem Haar, mitternachtsblauem Anzug und Blume im Knopfloch sein. An einem Finger würde er einen Ring mit einem großen Rubin tragen. »Sie wünschen?« Natürlich würde die Clinic nur eine Deckfirma für eine kriminelle Organisation sein: Rauschgifthandel oder ein geheimes Bestattungsunternehmen, das Leichen verschwinden ließ. Haid ging weiter und fotografierte eine Auslage, in der Eisbecher mit Plastikcreme und Plastikschlagsahne ausgestellt waren, Tortenstücke aus Plastikteig, mit Plastikschokolade übergossen, H AMBURGER aus Plastik, Plastikfaschiertes zwischen Plastiksemmelhälften, Plastikerdbeeren in einem Papierbecher, Plastikkaffee in einem Plastikglas, Windbäckerei aus Plastik, Steaks aus Plastik, Kartoffeln aus Plastik, Spiegeleier aus Plastik, ganze Menüs aus Plastik. In einer anderen Etage der Auslage befanden sich Wachskerzen, die wie aus Marmor gemacht aussahen, von üppigen Phantasieblumen aus Wachs verziert, orange und gelb, blau und rot, bonbonrosa und pistazienfarben, gold und grün. Natürlich würde auch diese Fotografie Philipp Marlowe rätseln lassen, welche Bedeutung sie wohl haben mochte. Er würde zunächst auf der anderen Seite vor dem Geschäft stehen und die Straße beobachten. Vor dem Geschäft stand in weißer Farbe Bus auf der Fahrbahn. Marlowe würde über die weißen Buchstaben gehen und hinter einem der kleinen Bäume, die auf dem Gehsteig in grünen Holzbehältern standen, warten, wer das Geschäft betrat und verließ. Er würde die Schilder aufmerksam lesen, die entlang der Straße zu sehen waren: SAN FRANCISCO TICKET CENTER auf einem gelb und rot bemalten Metallschild, Mylans Drugs in lateinischer Schrift, weiß auf grün, Fidelity Savings und darunter eine elektronische Uhr mit roten Ziffern, die 11:38 anzeigte. Marlowe würde eine Zeitung aus dem gelb gestrichenen Zeitungsständer nehmen, der an der Straßenecke stand, einem Holzkasten mit einem Glasfenster, würde in der Zeitung blättern und das Geschäft nicht aus dem Auge lassen. Plötzlich würde jemand das Geschäft verlassen, eine zwielichtige Figur, Buchmacher oder Barbesitzer, und würde die Straße hinaufgehen. Haid dachte an den Zettel in seiner Tasche. Wie würde Marlowe sich entscheiden? Anrufen oder dem Mann folgen? Er würde dem Mann zum Hafen folgen. Haid holte den Plan heraus und ging durch das chinesische Viertel zum Hafen. Er hielt sich im chinesischen Viertel nicht lange auf, wurde aber zu seiner Überraschung von einem freundlichen Alten mit Brille gegrüßt. Haid grüßte zurück, und der Konfuzius grüßte ein zweites Mal.

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