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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Kontrollstelle hinter der Brücke fuhr Mehring langsamer und bezahlte 50 Cents, dann bog er nach rechts ab und fuhr zurück in die Greenwich Street.
     
19
     
     
    Haid saß in der Küche, während Mehring sich umzog. Haid hörte ihn aus dem Schlafzimmer sich ächzend in ein frisches Hemd zwängen.
    »Carson fährt nicht mit«, rief er, »sie geht mit Cheek aus. Er läßt sich ein neues Gebiß machen, damit er besser singen kann. Er hat eine schöne Stimme. Er sagt, es gibt ein Spezialgebiß für Sänger.«
    Mehring kam aus dem Schlafzimmer und lachte, als hätte er selbst künstliche Zähne.
     
     
20
     
     
    Auf einem Hochhaus war eine riesige Neon-Bierreklame angebracht, Lichtkorpuskeln perlten im Bierkrug wie Kohlensäure auf, weißer Bierschaum schmolz und Leuchtbuchstaben blinkten. Die Straße stieg steil an und die parkenden Autos sahen aus wie auf dem Asphalt festgeklebt. Eine Negerfamilie kehrte vom Sonntagsausflug zurück. Der Vater warf die Vordertüre seines schwarzen Oldsmobiles ins Schloß. Ein Haustor war weit geöffnet und Haid sah eine hüfthohe, dunkelbraune Holzverschalung, darüber eierschalenfarbene Wände. Negerkinder in kurzen Hosen liefen ein und aus. Das Haus, in dem McClure wohnte, war dunkelrosa. Ein Neger stand davor, umringt von Kindern, auf dem Arm ein Baby, das er mit der Flasche fütterte.
    Haid folgte Mehring über eine steile Treppe. Im selben Augenblick öffnete McClure die Türe und kam auf sie zu. Er hatte kurzgeschnittene Haare, trug einen Pullover und spitze, schwarze Stiefel, über deren Schaft er die Hosenbeine gezogen hatte. Die Gesichtshaut an der Wange war von Aknenarben übersät. McClure schüttelte ihm die Hand und führte Mehring und Haid in einen Raum mit zwei Fenstern, durch die man auf das dichte Blattwerk von Bäumen sah. Eines der Fenster war zur Hälfte mit einem Ornament aus roten und undurchsichtigen, weißen Scheiben verziert. In einer Ecke befand sich ein Notenständer mit aufgeschlagenem Notenheft, auf dem Boden lag ein schwarzer Flötenkasten. McClure wartete schwarzen Kaffee in Porzellantöpfchen auf und seine Frau kam kurz mit seiner schönen, blonden Tochter herein. Als Haid den ersten Schluck Kaffee genommen hatte, öffnete McClure ein Notizbuch und zeigte ihm eine gepreßte Blume, die er am Nachmittag beim Wandern in den Bergen gepflückt hatte. »Sehen Sie diese Blume, sie ist so wunderbar«, sagte er. »Und ein Blatt, wie wunderbar ist ein Blatt.« Er legte das Notizbuch weg und lehnte sich zurück. »Vor Jahren habe ich mich mit Astronomie beschäftigt. Ich sehe in der Natur etwas Metaphysisches. Ein Grashalm ist etwas Metaphysisches. Sehen Sie diese vollendete Form, diese wunderbare Farbe. Man muß einen Grashalm so lange ansehen, bis er kein Grashalm mehr ist. Bis man das Wort ›Grashalm‹ nicht mehr denkt. Van Gogh war nicht schizophren. Er hat die Dinge nur zu lange angestarrt. Die Farben, wie merkwürdig, daß es Farben gibt. Die Farben waren heilige Tinkturen für ihn.«
    Er stand auf, kramte im Bücherregal und las mit großer Ernsthaftigkeit ein phonetisches Gedicht vor. »Wörter sind auch solche Tinkturen«, sagte er. »Man müßte dies alles begreiflich machen können. Diese Wunder sind für den Menschen da, er muß sie sehen und empfinden lernen.« Durch eine geöffnete Tür sah Haid einen Hasen in der Küche von einem kleinen Stuhl mit geflochtenem Sitz hopsen. Der Hase hoppelte in das Zimmer, sprang Haid auf den Schoß und hoppelte weiter.
    »In der vergangenen Woche war ich in New York. Man muß seinen Körper wegdenken, um New York zu ertragen. Die Fußböden vibrieren, die Fahrstühle bleiben stecken, die Fensterscheiben zerspringen … Haben Sie vor, nach New York zu fahren?«
    Haid bejahte die Frage. McClure stellte ein zweites Töpfchen heißen Kaffees vor ihn hin. Er rauchte nicht, saß ruhig auf dem Sofa, das sich in der Mitte des Raumes befand. An einer Wand stand ein Korbsessel mit übergroßer Lehne, daneben ein Ofen mit Abzugsrohr. Im Raum roch es süßlich, und es war warm. McClure öffnete unaufgefordert die Tür zur Außentreppe. »Ist es besser so?«, fragte er.
    McClure schien durch die Natur zu wandeln, wie ein Astralleib. Jedes Tier, jede Pflanze umfing ihn mit einer magnetischen Strahlung, die ihn berauschte. Zur selben Zeit konnte der Schuhputzer, der Haid die Schuhe geputzt hatte, die Auslagenscheiben zu einem Geschäft einschlagen, um seine Bedürfnisse zu stillen. Natürlich spürte Haid, daß McClure ihm

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