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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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gerade einfiel. Dabei bemerkte er, daß Kapra ihn mit starren Augen fixierte. Es schien Haid, als vertiefte sich Kapras Blick in seinem, als wolle er ihn bannen, als sei er mißtrauisch Haid gegenüber und als wolle er ihn nicht aus den Augen lassen, um jede Geste und jedes Wort auf seine Wahrheit zu überprüfen. Haid fühlte sich beengt und blickte zu Boden oder auf die Terrasse hinaus, so als suche er nach Worten. Er hätte schneller sprechen können, doch er wollte nicht. Kapra hatte die nasse Holzbank von der Terrasse in die Küche getragen, ein Handtuch zusammengefaltet, auf die Bank gelegt und sich selbst auf dem Handtuch niedergelassen. Er fragte Haid, welche Lösung er gegen die Armut in Amerika sähe: Gewalt? – Haid war versucht, die Frage automatisch zu bejahen, aber es kam ihm unehrlich vor, mit ja zu antworten. Konnte man Gewalt befürworten und sie dann anderen überlassen? Konnte man sein risikoloses Leben einfach weiterführen und die Anwendung von Gewalt unterstützen? Es drehte sich ihm darum, daß er nicht in der Lage war, sein Leben so zu ändern, daß er ein Recht hatte, über Gewalt zu urteilen. Trotzdem antwortete er, daß Gewalt in bestimmten Fällen der einzige Ausweg sei. Kapra starrte ihm in die Augen, als wartete er darauf, daß Haid weitersprach, und Haid wiederholte nach einer Pause, was er gesprochen hatte. Dann fragte Kapra, ob er unter bestimmten Umständen einen Menschen umbringen könne. Haid sah Carson nackt und tot auf dem Bett liegen, aber er empfand in diesem Moment nichts. Er sagte ja, daß er das könne. Daraufhin hörten sie zu sprechen auf, und Haid bemerkte, daß es dunkler geworden war. Eine Fensterscheibe wies einen feinen Sprung auf, und als sein Blick auf die Teekanne fiel, sah er, daß sie den Zauber, den ihr das Sonnenlicht gegeben hatte, verloren hatte. Anstelle der Teekanne bemerkte er das Etikett eines Honigglases. Es leuchtete wie Zigarettenglut. Er spürte die entzündete Stelle unter der Zunge, spielte mit einer Silbergabel, die unbenutzt auf dem Tisch lag und berührte mit der Zungenspitze die entzündete Stelle im Mund. Ihm fiel ein, daß er in einem offenen Schrank in Kapras Haus ein seidenes Abendkleid gesehen hatte. Er legte sich auf das Bett, betrachtete den schlafenden Hund und schlief ein.
     
     
4
     
     
    Am späten Abend fuhren sie durch das nächtliche Los Angeles, zwischen Arealen mit flachen Häusern, die von kleinen Rasenflächen umgeben waren, und Tankstellen und Bruchbuden, um die sich niemand mehr zu kümmern schien. Der Himmel war schwarz und weit und von orangefarbenen Wolken bedeckt. Auf einer riesigen Reklametafel trank Mark Spitz lächelnd ein Glas Milch. Haid dachte an Philipp Marlowe, während die Schilder und Tafeln an ihm vorbeiflogen. Er dachte, daß Marlowe in Gedanken versunken in sein Büro fuhr, und er dachte daran, daß er in diesem Augenblick das Stoppschild am Straßenrand sah und daß es für ihn eine bestimmte Bedeutung haben würde. Und während die blinkenden, sich drehenden und mit Scheinwerferlicht bestrahlten Reklametafeln ihn wie eine Beute anzulocken schienen, dachte er an Carson, an Mehring und San Francisco. Er dachte an das Schlafzimmer und an Carsons starre Augen. Irgendwo hatte Haid bei Chandler den Satz vom »Geruch der Angst« gelesen. Wenn er daran zurückdachte, wie er vom Badezimmer in das Schlafzimmer gegangen war und Carson tot auf dem Bett liegen gesehen hatte, erinnerte er sich, daß er die Angst gerochen hatte: Die Vorhänge hatten nach Angst gerochen, die Türklinken, die Fensterscheiben, der Koffer, der Kasten. Angst stank. Er fühlte sich jedoch in dem Auto, das ruhig auf dem spärlich befahrenen Highway dahinfuhr, sicher. Es war ihm, als könne ihn nichts erreichen. Kein Brief, keine Nachricht, kein Telefongespräch, kein Ermittlungsbeamter. Einen Block weiter fuhr ein Polizeiauto mit heulender Sirene vorbei, aber Haid fühlte sich nicht betroffen. Als Kapra das Autoradio aufdrehte und im Radio ein Bremsgeräusch und ein Auffahrgeräusch zu hören waren, blickte Haid erschrocken durch die Windschutzscheibe. Auch täuschte er sich, als im Radio das Geräusch eines zu Boden fallenden Schlüssels zu hören war, das er für das zu Boden fallen seiner eigenen Schlüssel gehalten hatte. Kapra lachte, als Haid ihm sagte, daß er die Radiogeräusche für Wirklichkeit gehalten habe.
    In einem Restaurant setzte er sich an das Fenster. Haid hatte jetzt wenig Lust zu sprechen. Er war müde und fühlte, wie es

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