Der grosse Horizont
vielleicht in Europa. Nein, nach Europa durfte er nicht zurückfliegen. Man würde ihn ausforschen, und er würde schon dadurch verdächtig sein, weil er überstürzt abgereist war. Am besten war es, so schnell wie möglich nach Santa Monica zu fliegen und abzuwarten. Er konnte es abstreiten, Carson als Tote verlassen zu haben. Er konnte behaupten, Carson habe noch gelebt, als er abgereist sei. Aber da war der Taxifahrer! Der Taxifahrer würde sich an die Uhrzeit erinnern und eine Obduktion würde die Todesstunde feststellen. Aber ließ sich das so genau auf eine Stunde feststellen, wenn der Leichnam zwei Tage nicht gefunden wurde? Andererseits: Wer sagte, daß man ein Verbrechen ins Kalkül zog? So, wie es für ihn aussah, war Carson gestorben. Wahrscheinlich war sie krank gewesen und plötzlich gestorben. Mehring würde zurückkommen und sie finden. Er sah ganz deutlich vor sich, wie Mehring das Zimmer betrat und Carson halbnackt und tot auf dem Bett lag. Er war mittlerweile in das Taxi gestiegen und starrte durch das Seitenfenster hinaus. Unter seiner Zunge spürte er eine entzündete Stelle, die er automatisch mit der Zungenspitze berührte. Er dachte »rohes Fleisch«. Dann wurde ihm übel und sein Magen begann zu schmerzen. Das Taxi fuhr bergab, und Haid zweifelte an seinem Verstand. Erlebte er all das wirklich? Der Taxifahrer führte ihn ahnungslos durch die Stadt. Er tat ihm gegenüber seine Pflicht, als habe Haid ein Anrecht darauf.
Er half ihm, ohne es zu wissen, zu entkommen. Er setzte gleichsam voraus, daß es selbstverständlich war, mit einem Fahrgast zu einem Ziel zu fahren und Haid profitierte von dieser Selbstverständlichkeit.
37
Als Haid in das Hotel trat, klopfte ihm der Portier auf die Schulter. Dieses Mißverständnis tat ihm wohl. Er legte sich in seinem Hotelzimmer auf das Bett und stand zwischendurch auf, um seinen Koffer zu packen. Er hatte Angst davor, daß das Telefon läuten könnte oder daß jemand an seine Zimmertür klopfen würde. Er mußte immer wieder aufhören, seinen Koffer zu packen, da er zu kraftlos war, um sich darauf zu konzentrieren. Um zehn Uhr verließ er das Hotel und fuhr mit einem Taxi zum Flughafen. Wieder spürte er die entzündete Stelle unter seiner Zunge. Es regnete stark und ein Teil von San Francisco war von riesigen, schwarzen Wolken verhangen, die durch die getönte Windschutzscheibe bedrohlich aussahen. Die Efeublätter am Straßenrand flatterten im Wind, als winkten sie ihm auf eine unheimliche Weise zu.
SANTA MONICA
1
Den Flug nach Los Angeles verschlief Haid. Er schlief aus Erschöpfung und Verkommenheit, wie er sich sagte. Als er erwachte und sich eine Zigarette anzünden wollte, fand er die Serviette in der Tasche. Alles kam ihm sinnlos vor. Natürlich würde man ihn ausforschen. Mehring würde seinen Besuch nicht verschweigen. Man würde ihn fragen, wann er Carson zum letzten Mal gesehen hatte, und er würde die Wahrheit sagen. Was ihn erstaunte, war, daß er sich erleichtert fühlte. Es kam ihm verrückt vor, daß er sich erleichtert fühlte. Er hatte die Empfindung, als lebe jemand anderer sein Leben und als könne er diesen anderen in keiner Weise beeinflussen. Er dachte wieder an die Serviette und, obwohl er keine Möglichkeit sah, sie im Flugzeug loszuwerden, überlegte er, wo er sie liegenlassen könnte.
2
Kapra holte ihn mit dem Auto vom Flughafen ab. Er war zwei Meter groß, schlank, hatte gewelltes, brünettes Haar und eine scharfe Nase. Wenn er dastand und jemandem zuhörte, beugte er den Oberkörper leicht nach vorn und ließ eine kleine Pause verstreichen, bevor er antwortete, so daß die Unsicherheit des Sprechenden dazu führen konnte, daß er sich zu wiederholen begann. Kapra hatte in Wien Architektur studiert und war auf den Rat seiner Mutter, die in Innsbruck eine Galerie führte, nach Kalifornien gezogen, um sich eingehend mit amerikanischer Architektur zu beschäftigen. Aber zwischendurch hatte er das Interesse daran verloren und es vorgezogen, als Wirtschaftsberater zu arbeiten. Er hatte eine ruhige und freundliche Art, und doch hatte Haid den Eindruck, daß er dahinter etwas verbarg. Seine Höflichkeit schien aus der eigenen Zufriedenheit zu kommen und von den übrigen Menschen schien ihn, auch wenn er herzlich war, eine kühle Distanz zu trennen. Haid war sicher, daß diese Distanz Kapras innerer Kälte entsprang, einer von Natur gegebenen Gefühllosigkeit. Haid konnte sich nicht erinnern,
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