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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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das die Tür mit einem eigenen Schlüssel öffnete.
    Den Nachmittag über lag Haid mit trübsinnigen Gedanken auf dem Bett, ließ, wie es der Verkäufer ihm vorgeschrieben hatte, folgsam jede Stunde eine Tablette im Mund zergehen und wartete darauf, daß seine Halsschmerzen verschwinden würden. Wie oft, wenn er krank war, fiel ihm seine Kindheit ein: Häufig war ihm eine Krankheit willkommen gewesen, sie hatte ihn seiner Verpflichtungen und Sorgen enthoben und in einen Leerraum versetzt, der frei war von Ängsten und Hoffnungen.
     
     
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    Als es dunkel wurde, setzte er sich in eine Bar in der Nähe des Hotels. Er fühlte sich einsam und von seinen Erinnerungen bedrängt, aber er konnte wegen seiner Halsschmerzen nicht schlafen. Noch immer nahm er stündlich die vorgeschriebenen Tabletten, im Grunde rechnete er jedoch nicht damit, daß sich sein Hals bessern würde. Am Morgen kehrte er in das Hotel zurück. Durch die nächtliche leere 5 th Avenue fuhr nur ab und zu ein Taxi. Am Fahrbahnrand parkten riesige Laster mit Aluminiumkästen als Frachtraum. Die 5 th Avenue sah in der nächtlichen Dunkelheit breit und drohend aus. Aber Haid fragte sich, wovor er sich noch fürchten sollte … Er dachte an die Fußmärsche durch die Nacht, wenn er, betrunken von einem Seitensprung kommend, das Gefühl süßer Zungenküsse noch im Mund, nach Hause gegangen war.
     
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    Mit dem beruhigenden Rauschen des Regens im Ohr erwachte er. Auf der Straße hasteten Menschen in Regenkleidung dahin, und der Strom gelber Taxis wälzte sich glänzend über den fettigschwarzen Asphalt.
    Bei seiner Rückkehr in der Nacht hatte er im Hotelzimmer eine Nachricht gefunden, daß er Mrs. Jakubowski anrufen möge. Er hatte den Zettel zerrissen und in den Papierkorb geworfen, aber das Läuten des Telefons erinnerte ihn wieder daran. Voll zwiespältiger Gefühle hob er ab.
    »Bist du’s, Daniel?«
    »Ja, ich bin’s.«
    »Du hattest es aber eilig, ins Hotel zu ziehen.«
    Haid schwieg.
    »Kommst du heute zum Abendessen?«
    »Ich weiß noch nicht.«
    »Wieso weißt du’s noch nicht? Hast du etwas anderes vor?«
    »Es ist wegen der Halsschmerzen«, log Haid.
    »Du mußt zum Arzt gehen. Hast du hier einen Arzt? – Nein, natürlich hast du keinen, warte, ich geb dir eine Adresse. Fahr in einer Stunde dorthin, ich kündige dich an.«
     
     
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    Der Arzt hieß Dr. Stephan Robbins und wohnte in der sechzigsten Straße, Ecke Park Avenue. Der Taxifahrer summte. Sie überholten einen der grünen, mit gelben Buchstaben beschrifteten Müllabfuhrwagen. Mein Gehirn träumt, dachte Haid. Es träumt sich in das Geschäft für Porzellanwaren hinein, das sich hinter der schwarzen Glasscheibe befindet, träumte sich in den LIQUORSHOP mit der langen Reihe von Flaschen in der Auslage, träumt sich in die Kirche mit der blauen Tür und dem kümmerlichen, blühenden Forsythienstrauch im eisenumzäunten Vorgarten. Es träumt auf eine herrschsüchtige Weise, auf eine mich bedrückende Weise. Ich kann es nicht beeinflussen, sondern muß mich danach richten. Fortlaufend muß ich mich zwingen, meine Aufmerksamkeit nach außen zu richten.
    Der Regen war in ein Nieseln übergegangen, aber der Himmel war noch immer dunkel wie eine sich auflösende Rauchwolke. Vor dem Haus in der sechzigsten Straße bezahlte er den Fahrer. Die Angst bewirkte, daß er das Künftige voraussehen wollte und es dennoch fürchtete. Das war vielleicht auch der Grund, weshalb ihn die Angst lähmte, weshalb er Mehring noch nicht angerufen hatte und weshalb er sich in den Augenblick floh. Eine grauhaarige Dame, klein, gepflegt, im weißen Mantel öffnete ihm.
    »Sie sind Mr. Haid?«, fragte sie auf deutsch. Das Wartezimmer war leer. Haid bejahte die Frage und folgte ihr in die Ordination. Durch die halbgeschlossenen Jalousien drang grünliches Licht von der Straße hinein. Dr. Robbins saß freundlich hinter dem Schreibtisch und blickte ihn erwartungsvoll an. Er hatte dunkles, schütteres Haar, war leicht gebückt und trug eine goldene Brille in Halbkreisform. Er fragte Haid über das Klima in Kalifornien aus, während er ihm in den Hals schaute und nebenbei erklärte, daß er eigentlich Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten sei. Mrs. Jakubowski habe ihn gebeten, sich um ihn zu kümmern. Er steckte ihm ein Fieberthermometer in den Mund und suchte in einem gläsernen Arzneischrank nach Medikamenten. »Wie die meisten Intellektuellen werden Sie Amerika nicht mögen«, sagte er.

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