Der grosse Horizont
»Ich ziehe jedoch Amerika jedem europäischen Land vor. Ich ziehe auch New York jeder europäischen Stadt vor. Hier fühle ich, daß ich lebe, verstehen Sie? Es ist kein Kunststück, in einem Provinznest zu verkommen.« Er zog das Thermometer wieder heraus. Dann gab er Haid ein Plastikfläschchen mit orangenen und roten Tetracyclin-Kapseln und begleitete ihn zur Tür. Haid fragte nach dem Honorar, aber Robbins schüttelte gutmütig den Kopf und gab ihm beim Hinausgehen einen freundschaftlichen Klaps.
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Auf der Rückfahrt überlegte Haid, ob er nicht am nächsten Tag abreisen sollte. Er war voll Ungeduld, in das Hotel zurückzukehren, wartete voll Ungeduld auf den Lift und bemerkte, wie alles, was er sah, seine Unruhe verstärkte. Es machte ihn unruhig, daß auf dem Gang ein großer, reichverzierter Kupferaschenbecher stand, der mit weißem Sand gefüllt war, und es machte ihn unruhig, daß der Hausbursche die Zierspiegel im Gang voller Hingabe reinigte. Bevor er noch versuchte, die Türe zu seinem Zimmer aufzusperren, ärgerte er sich über das schlecht funktionierende Schloß. Zu seiner Überraschung aber war das Zimmer nicht versperrt. Hatte er vergessen, es abzusperren? Oder waren die Zimmermädchen mit der Reinigung beschäftigt? – Er lauschte. Nichts war zu hören, auch der Gang, auf dem er sich noch immer befand, war leer. Er betrat das Zimmer und schloß die Tür. Dann hörte er ein Geräusch hinter einer Tür. Er dachte, daß es sich um den Garderobenraum handelte, der ihm bis jetzt noch nicht aufgefallen war. Er machte einen Schritt auf den Raum zu und riß die Tür auf. Es war ein winziger Raum. In einer Ecke stand ein Eisschrank, und auf einem Tischchen befand sich ein Elektrokocher. Ein dünner Strahl Wasser lief aus einem Wasserhahn. Haid sah alles gleichzeitig, während er auf den Mann starrte, der sich im Raum befand. Es war O’Maley.
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Was dann geschah, lief in einer so kurzen Zeitspanne ab, daß Haid sich im nachhinein nicht mehr erklären konnte, aus welchem Grund er so gehandelt hatte. Er hatte nach dem Elektrokocher gegriffen, der nicht angesteckt gewesen war, hatte ihn an sich gerissen und nach O’Maley geworfen. Er hatte ihn an der Unterlippe mit einem häßlichen, dumpfen Geräusch getroffen, und O’Maley war zu Boden gestürzt. Aber Haid hatte sich getäuscht, als er geglaubt hatte, O’Maley ausgeschaltet zu haben, denn O’Maley trat ihm die Füße weg, so daß er nach hinten stürzte und mit dem Kopf gegen einen Türpfosten krachte. Er fühlte, daß ihm übel wurde, taumelte in das Zimmer, bückte sich nach einem Stuhl und warf diesen blindlings nach O’Maley, der aus dem Mund blutend auf ihn zuwankte. Er sah, wie O’Maley dem Stuhl auswich, Glas splitterte, und im nächsten Moment hatte O’Maley einen Revolver in der Hand. Einen Augenblick starrte ihn O’Maley voller Haß an, dann trübte sich sein Blick, er machte einen Schritt nach hinten und stürzte zurück in den kleinen Raum, in dem Haid ihn entdeckt hatte. Haid wartete unbewegt einige Sekunden, ob O’Maley sich erheben würde, dann wankte er auf ihn zu. Er sah nur seine Füße und die schwarzen Schuhe und ein kleines Stück Haut zwischen den Socken und der hinauf gerutschten Hose. Er blickte in den Raum und sah jetzt auch den Oberkörper, die Arme und das blutige Gesicht auf dem Linoleumboden liegen, der wie eine Marmorplatte mit künstlichen, goldenen Adern verziert war. In einer Ecke stand der Eisschrank, dessen Tür geöffnet war. Der Eisschrank war leer. Aus einem der Nickelhähne über dem Waschbecken lief noch immer dampfendes Wasser. Haid drehte es automatisch ab. Er spürte, daß der Wasserhahn heiß geworden war. Auf einem Holzbrett lag ein Plastikeinsatz für Eiswürfel. Der Revolver war auf den Teppich gefallen. Haid stieg wieder über O’Maley hinweg und nahm den Revolver an sich, beugte sich dann über O’Maleys Oberkörper und durchsuchte die Taschen seiner Jacke. Er fand einen Schlüsselbund, ein Feuerzeug, eine angebrochene Packung Zigaretten, Papiertaschentücher, einen Notizblock, einen Kugelschreiber, sowie ein dickes Bündel Dollarscheine. Was er suchte, fand er jedoch nicht: O’Maley hatte keinen Ausweis bei sich.
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Mit einem Ruck setzte sich O’Maley auf, griff nach seinem Kopf und lehnte sich mühsam an eines der eingebauten, weißen Kästchen. Dann schien er den Schmerz in seinem Mund zu fühlen; er verzog das Gesicht und schloß die Augen. Blut
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