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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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lassen. Wie im Traum war es möglich, andere Menschen ungesehen zu begleiten und sich plötzlich vor eine Situation gestellt zu sehen, die unbeeinflußbar und mechanisch ihren Lauf nahm. Auch sein Denken gehorchte einer Art Traumlogik, die im Geiste Dinge miteinander verknüpfen und darauf reagieren konnte, ohne daß er sich irgend etwas zu erklären vermochte: Er konnte sich ohne Mühe vorstellen, als Philipp Marlowe hier zu sitzen und O’Maley zu beobachten. Es war egal, aus welchen Gründen O’Maley hier saß, mochte er zuvor zusammengeschlagen worden sein oder mochte Marlowe sein Vertrauen gewonnen und ihn zum Zahnarzt begleitet haben. Er mußte auf der Hut sein, stets gegenwärtig, daß Kiman in ein Verbrechen verstrickt war, und daß er alles daransetzen würde, unentdeckt zu bleiben … Kiman kam wie der freundlichste Gentleman herein und bedeutete O’Maley, auf den Zahnarztstuhl zu steigen. Er untersuchte schweigend die Wunde im Mund, machte zwei Röntgenaufnahmen und führte sodann eine Lokalanästhesie durch. Und wieder dachte Haid, daß alles nur Vorwand sein konnte. Wenn Marlowe versuchte, einen Fall oder einen Tatbestand zu klären, so war es immer ein Hinter-eine-Fassade-Blicken. Alles konnte in jedem Augenblick nur mehr Fassade gewesen sein, die plötzlich zusammengestürzt war. In Wirklichkeit konnte Kiman Morphinist sein, ein Mann, dessen weiches Gesicht sich jählings in eine kalte Maske verwandeln, dessen Blick wie eine scharfe Rasierklinge den anderen durchdringen konnte, der kein wirklicher Zahnarzt war, sondern ein versoffener Dentist aus Arizona, der die Zahnarztpraxis zur Tarnung betrieb und der in Wirklichkeit nicht eine Lokalanästhesie durchgeführt, sondern O’Maley mit einer Droge betäubt hatte, die ihn nur die Wahrheit sprechen ließ. Kiman fragte jetzt O’Maley nach einem Gefühl in den Mundwinkeln, und als O’Maley antwortete, daß sie sich tot anfühlten, begann er die Wunde zu vernähen und mit einem Nickelhaken das Zahnfleisch wegzustemmen. Mit einem Knacken brach er die Wurzel heraus und legte sie auf ein Stück Zellstoff. O’Maley war bleich geworden. Seine Hände waren wachsfarben, und die Finger zitterten. Er versuchte, seinen Blick auf die gerahmten Diplome an der Wand zu heften, versuchte sie zu lesen, um das Bewußtsein nicht zu verlieren, verdrehte die Augen jedoch zu einem seltsam heiligen Blick und sackte im Stuhl zusammen. Kiman hielt ihm ohne Aufregung ein Salbenfläschchen unter die Nase und legte ihm zwei Gazestreifen, die er zuvor unter kaltes Wasser gehalten hatte, auf die Nasenwurzel und die schweißbedeckte Stirn. Er seufzte tief, wie es leidgeprüfte Männer aus Gewohnheit tun. O’Maley kam kurz darauf wieder zu sich, und als er auf die Frage Kimans nach seinem Befinden nickte, schabte Kiman die Wunde von Knochenresten aus. O’Maley litt. Kiman kümmerte sich nicht darum, sondern vollendete ungerührt sein Werk. Hierauf drückte er O’Maley einige in grünes Papier eingewickelte Gazestreifen in die Hand, mit der Anweisung, sie alle zehn Minuten zu wechseln. Dann zog er eine Lade aus dem Schreibtisch heraus, wühlte darin herum und fand zwei Briefchen, in welchen sich Schmerztabletten befanden, die O’Maley nehmen sollte. Haid erinnerte sich an seinen schmerzenden Hals. Er dachte wieder an Dr. Robbins, an Dr. Kiman und O’Maley und die Zufälligkeit, die ihn mit diesen Menschen zusammengeführt hatte.
 
 
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    Mit dem Taxi ließen sie sich zurück in das Hotel bringen, vorbei am Times Square, wo das Auto wegen einer Verkehrsstauung anhielt und Haids Blick auf das durch Reklametafeln verdeckte, rußgeschwärzte Eckhaus zwischen Broadway und der siebenten Straße fiel. In Leuchtschrift blinkte die Automarke CHEVROLET in riesigen Lettern in den Himmel, darunter lief die Reklame für Canadian Club Whisky in Neonröhrenschrift auf gelbem Hintergrund, und näher der Straße warben blaue und rote Schilder für eine Show. Gerade als Haid wegblicken wollte, sah er Christine vor einem Haus stehen und in der Handtasche nach irgend etwas suchen. Er betrachtete die Frau genauer und war sofort voller Zweifel, ob es sich tatsächlich um Christine handelte. Das Taxi fuhr weiter, und Haid starrte durch die Heckscheibe der Frau nach. Sie wurde im Verkehrsgewühl immer kleiner zwischen den hohen Gebäuden, den Reklametafeln auf den Häusern und einer hundertfach vergrößerten Metallkappe einer Pepsi-Cola-Flasche, die auf dem Dach eines Hauses befestigt war.

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