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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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blickte er dem Taschentuch nachdenklich nach. »Es wäre schön, wenn Sie Mrs. Jakubowski nach einem Zahnarzt fragen würden«, sagte er. Haid hob – bevor er Christines Nummer wählte – den Stuhl auf und stellte die Stehlampe, deren Glühbirne zerbrochen war, dort hin, wo sie früher gestanden hatte. Er warf einen Blick auf O’Maley, der mit geschlossenen Augen auf dem Bett lag und ein neues Papiertaschentuch in den Mund gesteckt hatte.
    Als Haid sich mit seinem Namen meldete, fragte ihn Christine nach seinen Halsschmerzen.
    Haid antwortete, Dr. Robbins habe ihn untersucht. »Ich bin in ein bis zwei Tagen wieder in Ordnung«, sagte er. Dann fragte er, ob sich jemand nach ihm erkundigt habe. Christine tat überrascht. Ja, und zwar schon vor zwei Tagen, ein Mister O’Maley. Er habe sie auch gestern abend vom Flugplatz aus angerufen.
    »Und warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich habe dich vor zwei Tagen eigens danach gefragt, ob mich jemand sprechen wollte.«
    »Ich hatte es vergessen. Ich habe die ganze Zeit über an unsere Aussprache gedacht und den Anruf darüber ganz vergessen. War es wichtig? Du mußt mir verzeihen, ich hoffe, es ist nicht schlimm.«
    »Es war nicht so wichtig«, murmelte Haid.
    »Ich muß heute abend absagen, Daniel, es tut mir leid. Jerry hat eine Verpflichtung, und ich muß ihn begleiten. Er wußte nicht, daß ich dich eingeladen hatte. Aber vielleicht sehen wir uns morgen.«
    Arbeitete Christine wirklich mit O’Maley zusammen? Stand er unter so schwerwiegendem Verdacht, daß Christine ihn an O’Maley verriet? Aber warum verhaftete O’Maley ihn dann nicht? Und warum vermied er es, die Sprache auf Carson zu bringen? – Er drehte sich nach O’Maley um, der noch immer unverändert auf dem Bett lag und auf das Papiertaschentuch biß. Haid sagte, daß O’Maley mit starken Zahnschmerzen eingetroffen sei und in der Hotelhalle sitze. Ob sie ihm einen Zahnarzt vermitteln könne.
    »Warte«, sagte Christine. Er hörte sie im Telefonbuch blättern.
     
     
39
     
     
    Das Taxi wurde von einer fetten Negerin gelenkt, die fortlaufend versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Da weder Haid noch O’Maley antworteten, schwieg sie schließlich mit einem ärgerlichen Grunzton und beeilte sich, die schweigsamen Fahrgäste abzusetzen. Sie hielt vor dem HAUS EAST 235 in der zweiundzwanzigsten Straße. Neben der Eingangstür war ein schwarzes Glasschild mit goldenen Buchstaben befestigt, auf dem der Name DR. RICHARD AARON KIMAN zu lesen war. Haid fiel auf, daß er immer weniger wahrnahm. Je mehr ihn O’Maley beschäftigte, desto weniger sah er und desto weniger berührte ihn. Ihn berührte im Augenblick weder Armut noch Elend, weder Schmutz noch Alkohol. Seine Gedanken liefen im Kreis. Möglicherweise war dies der Zustand der Elenden und Wehrlosen. Möglicherweise wurden sie von Ängsten und Verzweiflungsgefühlen bedrängt, die sie untätig werden ließen und gar nicht vor die Wahl stellten, etwas zu ändern. Trotzdem erschienen Haid alle Menschen, die er jetzt sah, frei und glücklich. Er beneidete sie, daß sie scheinbar ohne Angst auf der Straße gingen und Zeit hatten. Er hatte keine Zeit mehr. Er hatte seine Zeit verloren, weil er über sie nicht mehr bestimmen konnte. Die Ereignisse und O’Maley bestimmten über seine Zeit. Sie bestimmten, ob sie schnell oder langsam verging oder ob er merkte, wie sie verstrich, oder ob er darauf vergaß. Sie bestimmten, ob er etwas sah und darüber nachdachte, und sie bestimmten nicht zuletzt, was er tat. O’Maley hatte inzwischen die elektrische Klingel betätigt. Gleich darauf öffnete sich die schwere, braune Eingangstür mit einem Summton.
     
     
40
     
     
    Dr. Aaron Kiman bohrte lustlos im Mund einer Blondine herum. Er trug einen blauen Ärztekittel und eine zu kurze, schwarze Hose, hatte schwarzes Haar, eine außergewöhnlich große Nase, auf der eine Hornbrille wie ein Aufsichtsorgan thronte. Er wies O’Maley, ohne sich um Haid zu kümmern, in das Wartezimmer, von dem aus Haid in den Behandlungsraum auf den blauen Zahnarztstuhl, die blaue Operationslampe und die blaue Bohrmaschine sehen konnte. Für Haid war alles eine merkwürdige Wiederholung. Er wollte aufhören zu träumen und wußte nicht mehr, ob er träumte oder wachte. Es schien ihm für kurze Augenblicke möglich, daß er selbst O’Maley war, der mit einem ausgeschlagenen Zahn bei einem fremden Zahnarzt saß, während O’Maley als Haid sich bei Dr. Robbins hatte den Hals behandeln

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