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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Haid spürte, wie ihn der Anblick der Straße immer mehr gefangen nahm, wie er für ihn poetisch geworden war, und er fragte sich, ob diese Form von Poesie nicht mit Anarchie verbunden war, so wie Chicago mit etwas Poetischem verbunden war, das seine Wurzeln im Verbrechen hatte. Es war gewiß diese Form der Poesie, die in Chandlers Kopf Philipp Marlowe erzeugt hatte. Haid warf unwillkürlich einen Blick auf O’Maley, den Nacken des Taxichauffeurs und seine um das Lenkrad gekrümmten Hände. Er fühlte sich bedrängt, und eine Beklemmung befiel ihn, so daß er das Fenster herunterkurbelte und krampfhaft das Gesicht nahe vor den Fensterspalt hielt.
     
     
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    O’Maley legte sich im Hotelzimmer auf Haids Bett und schlief ein. Haid überlegte, was er tun sollte, und beschloß dann, daß es das Vernünftigste sei zu warten. Er aß in einem Selbstbedienungsladen um die Ecke ein Steak. Ein Neger kam hereingestürzt und verlangte nach einem Telefon. Er gab keine Gründe an, und man fragte ihn auch nach keinen Gründen, sondern schickte ihn wieder hinaus. Der Neger ging ohne Widerspruch und ohne nach Gründen zu fragen. Haid schien alles wie auf eine geheime Absprache hin zu funktionieren. Seine Halsschmerzen hatten nachgelassen. Er kaufte einen Karton Bier und einige Stücke Pizza und ging in das Hotel zurück. O’Maley war aufgewacht. Er blutete noch immer ein wenig aus dem Mund, nahm einen Gazestreifen, hielt ihn unter heißes Wasser und biß darauf. Dann versuchte er, auf der anderen Seite ein Stück Pizza zu essen, wobei ein kleiner Bissen mit der Wunde in Berührung kam und in O’Maley die Sorge weckte, sich dadurch womöglich infiziert zu haben. Haid hatte den Motor des Eisschranks in Betrieb gesetzt, der sofort zu summen begonnen hatte. Er stellte das Bier kalt und öffnete eine Flasche am Türstock, da er keinen Öffner finden konnte. Jetzt erst bemerkte er, daß der Fernsehapparat angeschaltet war. Humphrey Bogarts Gesicht war auf dem Bildschirm zu sehen, die Hutkrempe in der Stirn, melancholische Tränensäcke unter den Augen. Bogart nahm ein Bündel Dollarscheine von einem Tisch und steckte es automatisch ein. Haid erinnerte sich daran, diese Szene bereits gesehen zu haben. Dann fiel ihm ein, daß der Film DER TIEFE SCHLAF hieß und Humphrey Bogart die Rolle des Philipp Marlowe spielte.
     
     
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    Schon sehr früh am Morgen erwachte Haid. Er erhob sich vom Boden und warf einen Blick auf O’Maley. Das Polster, auf dem O’Maleys Kopf ruhte, war von Blutflecken verschmiert, die zum Teil durch mitausgeflossenen Speichel hellrosa waren oder von welchen man nur die Ränder sah, andere wiederum waren dunkelrot, wie von Blutstropfen, die aus der Nase kommen. Die Luft war stickig heiß. Haid schaltete die Klimaanlage aus und öffnete das Fenster. Das gegenüberliegende Haus mit den unverputzten Ziegelwänden, den schwarzgestrichenen Fensterrahmen, den eierschalfarbenen Jalousien und den plumpen Boxen der Klimaanlagen war voller Leben. Er konnte zum Teil in die Fenster blicken, ohne daß sich jemand um ihn kümmerte. Natürlich erinnerte er sich an das Fenster in San Francisco, das er von seinem Hotelzimmer aus gesehen hatte, aber seine Empfindungen waren damals andere gewesen. Jetzt empfand er Ekel vor den Menschen, die er in ihren Wohnungen sehen konnte. Sie kamen ihm dumpf und gleichgültig vor und auf eine unbestimmte Art unwirklich. An einem Tisch standen zwei Frauen in Morgenröcken und kochten, eine andere Frau in einem hellblauen Unterkleid öffnete eine Schranktüre und sortierte bunte Frotteehandtücher in ein Fach. Häufig, wenn Haid Ekel empfand, flüchtete er sich in die Betrachtung von Einzelheiten. Auf dem Nachttisch lag ein Päckchen Streichhölzer mit dem Muster eines Rades aus Pfauenrädern, daneben hatte er die Plastikphiole mit den Tetracyclin-Kapseln gelegt. Er schluckte eine Kapsel und bemerkte, daß sein Hals nicht mehr schmerzte. O’Maley schlief noch immer. Lautlos kleidete sich Haid an und ging auf die Straße. Es war ein trüber, regnerischer Sonntag, und Haid wußte nicht, wie er seine Zeit ausfüllen sollte. Während er ziellos die Straße hinunterging, dachte er darüber nach, weshalb O’Maley in New York geblieben war. Wenn er ihm nur das Geld hatte zurückgeben wollen, hätte er noch am selben Tag abreisen können. Aber er hatte von Abreise nichts gesprochen. Andererseits hätte Haid sich auch aus dem Staub machen können. Er hätte seine Koffer packen und

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