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Der grosse Horizont

Der grosse Horizont

Titel: Der grosse Horizont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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verschwinden können. Aber O’Maley schlief. Das heißt, wenn er nicht nur vorgab zu schlafen. Bei diesem Gedanken drehte sich Haid um und blickte zum Hotel zurück. O’Maley war nirgends zu sehen. Haid betrat die nächste Frühstücksstube und ließ dabei den Hotelausgang nicht aus dem Auge. Wenn O’Maley ihm hatte folgen wollen, so hätte er sich verraten, denn Haid hätte ihn auf der Straße gesehen. So aber konnte er nicht wissen, wo Haid sich befand. Und wenn er ihn vom Fenster aus beobachtete? Wenn ein Taxi vor dem Hotel stand, in das er hastig sprang, um ihm zu folgen? – Nein, ich bin verrückt, dachte Haid. Eine alte Frau wollte die Imbißstube verlassen, aber sie war so kraftlos, daß sie nicht imstande war, die Tür aufzustoßen. Der junge Neger, der vor der Tür die Passanten um einen Dime anbettelte, zog die Tür auf und grinste die Frau an. »Ich bin ein Verrückter«, dachte Haid. Er war über diesen Gedanken nicht nur traurig, sondern fühlte gleichzeitig eine heimliche Freude. Er fand die Vorstellung, verrückt zu sein, äußerst reizvoll, weil sich seine Perspektive verändern würde. Er mußte sich nichts mehr erklären, die Erklärungen würden sich automatisch einstellen. Eine kleine Negerin in einer weißen Bluse, eine rotweißgestreifte Schürze um den mageren Körper, servierte ein Glas Orangenjuice, Ham and Eggs, Kaffee und Toast, und Haid trug sein Frühstück zu einem der gelben und roten Kunststofftische, an welchen Menschen lehnten und kauten. Haid stellte sich neben einen Mann im Regenmantel. Der Mann trug einen Hut auf dem Kopf, und sein Gesicht war von grauen Bartstoppeln bedeckt. Da Haid dabei war, sich einzureden, daß er verrückt sei, hatte er keinen Argwohn vor dem Mann. Er stellte das Frühstück auf die spiegelnde Platte, und der Eindruck, an einem Ort für Verrückte zu sein, verstärkte sich. Überall lagen Kippen auf dem Boden, und auf den Tischen türmten sich Pappteller mit Speiseresten. Er kam sich vor wie im miesesten Winkel einer surrealen Einöde. Der Mann neben ihm ließ den Pappbecher fallen. Sein Gesicht wurde von einem blöden Grinsen überzogen, er drehte sich zur Bar hin und schaute das Personal fragend an. Niemand interessierte sich für ihn. Es interessierte sich auch niemand dafür, daß einer seiner Füße in einer Kaffeepfütze stand. Haid zündete sich eine Zigarette an und ging wieder auf die Straße, und da er fühlte, daß ihm schwindlig wurde, warf er die Zigarette in das Rinnsal. Es regnete jetzt in Strömen. Haid kaufte sich an einem Zeitungsstand die NEW YORK TIMES. Natürlich dachte er nicht einmal im Traum daran, sie zu lesen. Er beeilte sich, die menschenleere Straße bis zum Hotel hinaufzugehen. Im Lift stieg ein Mann mit einem riesigen Bernhardiner zu. In seinem Zimmer legte sich Haid auf den Boden und überflog den Comic strip in der Zeitung. Ken Norton hatte Cassius Clay den Kiefer gebrochen. O’Maley schlief noch immer.
     
     
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    Haid mußte über der Zeitung eingeschlafen sein, denn er erwachte verstört am Nachmittag, mit dumpfem Kopf und schweren Gliedern. Das Bett, in dem O’Maley geschlafen hatte, war leer. Haid erhob sich mühsam, steckte seinen Kopf unter die Wasserleitung und warf zur Kontrolle einen Blick in den Raum, in dem sich der Eisschrank befand, aber O’Maley war nicht mehr da. Wohin war er gegangen? Hatte er New York verlassen? Traf er Christine? Oder hatte er eine Unterredung mit der Polizei? – Die Ungewißheit war mit einem Male so quälend, daß Haid wieder auf die Straße flüchtete. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel war dunkel und düster, und die höhergelegenen Stockwerke der Wolkenkratzer waren von weißen Nebeln eingehüllt. Es fiel ihm ein, daß er in der Imbißstube an eine surreale Einöde gedacht hatte, und er empfand diesen Gedanken jetzt stärker, denn die Häuser waren rußig schwarz, vor den nachgedunkelten Ziegelwänden liefen Feuerleitern in unbegreifliche Höhen, und aus Kartons und Plastiksäcken quoll Unrat. An der Ecke der einundzwanzigsten Straße, 5 th Avenue, rollte vor seinen Augen eine grüne, gepflegte Limousine quer über die schwachbefahrene Fahrbahn direkt in einen gelben Straßenwegweiser. Der Kühler schob sich zusammen, die Windschutzscheibe splitterte weiß auf, ohne zu zerbrechen, die Türen sprangen auf: Drei Neger – zwei Männer und eine Frau – taumelten heraus und setzten sich auf die nasse Straße. Alles war ohne ersichtlichen Grund geschehen. Haid

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