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Der große Schlaf

Der große Schlaf

Titel: Der große Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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mit Rauch und stieß ihn wieder aus, dann schien sie die Zigarette zwischen ihren Fingern zu vergessen. Sie nahm keinen weiteren Zug.
    »Nun, das Vermißtendezernat kann ihn nicht finden«, sagte ich. »Es ist nicht so einfach. Was die nicht fertigbringen, das werde ich wohl auch kaum scharfen.«
    »Oh.« In ihrer Stimme war eine Spur von Erleichterung.
    »Das ist der eine Grund. Die Leute vom Vermißtendezernat glauben, daß er freiwillig verschwunden ist, den Vorhang runtergelassen hat, wie sie das nennen. Sie glauben nicht, daß Eddie Mars ihn beiseite geschafft hat.«
    »Wer sagt denn, daß ihn jemand beiseite geschafft hat?«
    »Dazu kommen wir noch«, sagte ich.
    Einen winzigen Augenblick lang schien ihr Gesicht auseinanderzufallen, es war nur noch eine Ansammlung von Zügen ohne Form und Beherrschung. Ihr Mund wirkte wie das Präludium zu einem Schrei. Aber nur für einen Augenblick.
    Das Blut der Sternwoods zeigte sich eben nicht nur in ihren schwarzen Augen und ihrer Verwegenheit.
    Ich stand auf und nahm ihr die qualmende Zigarette aus den Fingern und zerdrückte sie in einem Aschenbecher. Dann zog ich Carmens kleinen Revolver aus der Tasche und legte ihn sorgfältig, mit übertriebener Sorgfalt, auf ihr weißes Seidenknie. Ich balancierte ihn aus und trat zurück, den Kopf zur Seite geneigt wie ein Schaufensterdekorateur, der die Wirkung einer neuen Halstuchschleife am Hals einer Puppe betrachtet. Ich setzte mich wieder hin. Sie regte sich nicht. Ihre Augen senkten sich Millimeter um Millimeter und blickten auf den Revolver.
    »Er ist harmlos«, sagte ich. »Alle fünf Kammern leer. Sie hat sie alle leergeschossen. Alle auf mich.«
    In ihrer Kehle pulste es wild. Ihre Stimme wollte etwas sagen und konnte nicht. Sie schluckte.
    »Aus einer Entfernung von fünf oder sechs Fuß«, sagte ich.
    »Ein süßes, kleines Wesen, nicht wahr? Zu dumm, daß ich den Revolver mit Platzpatronen geladen hatte.« Ich grinste dreckig.
    »Ich hatte so eine Ahnung, was sie tun würde – wenn sie Gelegenheit dazu bekäme.«
    Sie holte ihre Stimme aus einer weiten Ferne zurück. »Sie sind ein abscheulicher Kerl«, sagte sie. »Abscheulich.«
    »Genau. Und Sie sind Ihre große Schwester. Was werden Sie jetzt tun?«
    »Sie können kein Wort davon beweisen.«
    »Was kann ich nicht beweisen?«
    »Daß sie auf Sie geschossen hat. Sie sagten doch, Sie waren mit ihr dort unten bei den Bohrtürmen, allein. Sie können kein Wort von dem beweisen, was Sie sagen.«
    »Ach, das«, sagte ich. »Ich habe gar nicht daran gedacht, es zu versuchen. Ich habe an ein anderes Mal gedacht – als die Patronen in der kleinen Kanone richtige Kugeln enthielten.«
    Ihre Augen waren finstere Teiche, viel leerer noch als Finsternis.
    »Ich dachte an den Tag, an dem Regan verschwand«, sagte ich. »Spät am Nachmittag. Als er mit ihr zu den alten Bohrtürmen hinunterfuhr, um ihr das Schießen beizubringen, und irgendwo eine Büchse aufstellte und ihr sagte, sie sollte drauf ballern, und als er dann ganz nahe bei ihr stand, während sie schoß. Und sie hat nicht auf die Büchse geschossen. Sie hat den Revolver herumgerissen und ihn erschossen, genau wie sie mich heute zu erschießen versucht hat, und aus genau demselben Grund.«
    Sie bewegte sich etwas, und der Revolver glitt von ihrem Knie und fiel zu Boden. Ein lauteres Geräusch hatte ich kaum je gehört. Ihre Augen waren starr auf mein Gesicht gerichtet.
    Ihre Stimme war ein langgezogenes Stöhnen voller Qual.
    »Carmen ... Barmherziger Gott, Carmen! ... Warum?«
    »Muß ich Ihnen wirklich sagen, warum sie auf mich geschossen hat?«
    »Ja.« Ihre Augen waren noch voller Schrecken. »Ich ... Ja, das müssen Sie.«
    »Als ich vorgestern abend nach Hause kam, war sie in meiner Wohnung. Sie hatte den Hausverwalter beschwatzt, sie hereinzulassen, damit sie auf mich warten konnte. Sie lag in meinem Bett – nackt. Ich habe sie ohne viel Federlesens hinausgeworfen. Ich vermute, Regan hat ihr wohl mal dasselbe angetan. Aber so etwas darf man mit Carmen nicht machen.«
    Sie zog die Lippen zurück und machte einen halbherzigen Versuch, an ihnen zu lecken. Sie sah dadurch, für einen kurzen Augenblick, aus wie ein erschrecktes Kind. Die Linien ihrer Wangen wurden schärfer, und ihre Hand erhob sich langsam, wie eine künstliche Hand, die sich an Drähten bewegt, und ihre Finger schlossen sich langsam und steif um den weißen Pelz ihres Kragens. Sie zogen den Pelz eng um ihren Hals. Danach saß sie nur noch da und

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