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Der große Schlaf

Der große Schlaf

Titel: Der große Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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meinte etwas vom heißen Atem der Pulverladung zu spüren.
    Ich richtete mich auf. »Mein Gott, sind Sie süß«, sagte ich.
    Ihre Hand, die die leere Pistole hielt, begann heftig zu zittern.
    Sie ließ die Waffe fallen. Ihr Mund fing an zu flattern. Ihr Gesicht fiel auseinander. Dann schraubte sich ihr Kopf zum linken Ohr herum, und Schaum trat auf ihre Lippen. Ihr Atem machte ein winselndes Geräusch. Sie wankte.
    Ich fing sie auf, als sie stürzte. Sie war schon bewußtlos. Ich stemmte ihr mit beiden Händen die Zähne auseinander und stopfte mein Taschentuch als Pfropfen dazwischen. Ich brauchte meine ganze Kraft dazu. Ich hob sie auf und hievte sie in den Wagen, dann holte ich die Pistole und steckte sie in die Tasche. Ich zwängte mich hinters Steuer, setzte zurück und nahm die Strecke, die wir gekommen waren, den ausgefurchten Feldweg zum Gatter hinaus und wieder den Berg hoch, nach Hause. Carmen lag zusammengekrümmt in der Wagenecke, reglos. Ich war schon mitten auf der Auffahrt zum Haus, als sie sich rührte. Plötzlich riß sie weit und wild die Augen auf. Sie setzte sich gerade.
    »Was ist passiert?« keuchte sie. »Nichts. Warum?«
    »Jawohl ist was passiert«, kicherte sie. »Ich habe mich naß gemacht.«
    »Das kommt davon«, sagte ich.
    Sie sah mich plötzlich an, erbärmlich und ahnungsvoll, und begann zu stöhnen.

32
    Das sanftäugige Mädchen mit dem Pferdegesicht führte mich treppauf in den langen, grauweißen Wohnraum, in dem die elfenbeinfarbenen Vorhänge üppig über den Boden wallten und der weiße Teppich sich von Wand zu Wand erstreckte. Das Boudoir eines Filmstars, ein Ort voller Charme und Verlockung und so echt wie ein Holzbein. Im Augenblick war es leer. Die Tür hinter mir schloß sich so unnatürlich lautlos wie die Tür in einem Krankenhaus. Neben der Chaiselongue stand ein Frühstückstisch auf Rädern. Sein Silber glitzerte. In der Kaffeetasse war Zigarettenasche. Ich setzte mich und wartete. Es schien eine ganze Weile zu dauern, bis die Tür wieder aufging und Vivian hereinkam. Ihr austernweißer Hausanzug mit weißem Pelzbesatz floß an ihr herab wie eine sommerliche See, die über den Strand einer kleinen, fernen Insel schäumt. Sie ging mit langen, weichen Schritten an mir vorüber und setzte sich auf den Rand der Chaiselongue. Sie hatte eine Zigarette im Mundwinkel. Ihre Nägel waren heute kupferrot von der Wurzel bis zur Spitze, ohne Halbmonde.
    »Sie sind eben doch ein brutaler Kerl«, sagte sie ruhig und starrte mich an. »Völlig abgestumpft und brutal. Sie haben heute nacht einen Menschen getötet. Egal, woher ich das weiß.
    Ich weiß es eben. Und jetzt müssen Sie auch noch hierherkommen und meine kleine Schwester in Angst und Panik versetzen.«
    Ich sagte kein Wort. Sie wurde zappelig. Sie ging hinüber zu einem Schaukelstuhl und legte ihren Kopf gegen ein weißes Kissen, das zur Wand hin die Rückenlehne des Stuhls bedeckte. Sie blies blaßgrauen Rauch empor und sah zu, wie er zur Decke hinauftrieb und sich in kleine Fähnchen zerteilte, die noch ein Weilchen in der Luft zu erkennen waren und dann zu einem Nichts zerschmolzen. Dann senkte sie sehr langsam den Blick und sah mich kalt und hart an.
    »Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie. »Ich bin verdammt froh, daß einer von uns beiden vorletzte Nacht nicht den Kopf verloren hat. Schlimm genug, daß ich in meiner Vergangenheit einen Schnapsschmuggler aufzuweisen habe. Warum sagen Sie nichts, Herrgott noch mal?«
    »Wie geht es ihr?«
    »Oh, ganz gut, glaube ich. Sofort eingeschlafen. Sie schläft immer sofort ein. Was haben Sie ihr getan?«
    »Überhaupt nichts. Ich kam aus dem Haus, nachdem ich Ihren Vater besucht hatte, und sie war draußen. Sie hatte mit Pfeilen nach einer Scheibe an einem Baum geworfen. Ich ging hinunter, um mit ihr zu sprechen, weil ich noch etwas hatte, das ihr gehörte. Einen kleinen Revolver, den Owen Taylor ihr mal geschenkt hat. Sie hat ihn neulich abends mit zu Brody gebracht, am Abend nämlich, als er erschossen wurde. Ich habe ihn ihr dort wegnehmen müssen. Ich habe das nicht weiter erwähnt, deshalb wissen Sieś vielleicht nicht.«
    Die schwarzen Sternwood-Augen wurden groß und leer.
    Diesmal spielte sie das Schweigen im Walde.
    »Sie war froh, daß sie ihre kleine Kanone wieder hatte, und bat mich, ich solle ihr beibringen, wie man schießt, und sie wollte mir unten im Tal die alten Bohrtürme zeigen, mit denen Ihre Familie ein bißchen Geld verdient hat. Wir fuhren also hinunter,

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