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Der große Schlaf

Der große Schlaf

Titel: Der große Schlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
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Marlowe. Sie müssen ihn finden.«
    »Ich willś versuchen«, sagte ich. »Aber jetzt brauchen Sie Ruhe. Ich hab Ihnen ein Loch in den Bauch geredet.« Ich stand rasch auf und ging über die weite Fläche und hinaus. Er hatte die Augen wieder geschlossen, bevor ich noch die Tür öffnete.
    Seine Hände lagen schlaff auf dem Laken. Er sah aus wie ein toter Mann und noch viel toter als die meisten Toten. Ich schloß leise die Tür und ging den oberen Gang entlang und die Treppe hinunter.

31
    Der Butler erschien mit meinem Hut. Ich setzte ihn auf und sagte: »Was halten Sie von ihm?«
    »Er ist nicht so schwach, wie er aussieht, Sir.«
    »Wenn erś wäre, dann wäre er reif fürs Begräbnis. Welchen Narren mag er bloß an diesem Knaben Regan gefressen haben?«
    Der Butler sah mich an, offen und doch seltsam
    ausdruckslos.
    »Jugend, Sir«, sagte er. »Und das Auge des Soldaten.«
    »Wie Ihres«, sagte ich.
    »Wenn ich das sagen darf, Sir, nicht unähnlich dem Ihren.«
    »Danke. Wie geht es den Damen heute morgen?«
    Er zuckte höflich die Achseln.
    »Dacht ich mirś doch«, sagte ich, und er öffnete mir die Tür.
    Ich stand draußen auf der Stufe und genoß den Ausblick über die Rasenterrassen und gestutzten Bäume und Blumenbeete bis hinab zum hohen, eisernen Zaun am Ende der Gärten. Ich sah Carmen etwa auf halber Höhe, sie saß auf einer Steinbank, den Kopf zwischen ihren Händen, und wirkte verlassen und einsam.
    Ich ging die roten Ziegelstufen hinunter, die von Terrasse zu Terrasse führten. Ich war schon fast bei ihr, als sie mich hörte.
    Sie sprang auf und wirbelte herum wie eine Katze. Sie trug die hellblauen Hosen, die sie getragen hatte, als ich sie zum erstenmal sah. Ihr blondes Haar hatte dieselbe lockere, lohfarbene Welle. Ihr Gesicht war weiß. Rote Flecken flammten auf ihren Wangen auf, als sie mich ansah. Ihre Augen waren wie Schiefer.
    »Langeweile?« fragte ich.
    Sie lächelte langsam, eher scheu, dann nickte sie rasch. Dann flüsterte sie: »Sie sind mir nicht böse?«
    »Ich dachte, Sie seien böse auf mich.«
    Sie hob ihren Daumen hoch und kicherte. »Bin ich nicht.«
    Sobald sie zu kichern anfing, mochte ich sie nicht mehr. Ich sah mich um. Eine Zielscheibe hing etwa dreißig Fuß entfernt an einem Baum, ein paar Pfeile steckten darin. Drei oder vier weitere lagen auf der Steinbank, auf der sie gesessen hatte.
    »Für Leute mit Geld scheinen Sie und Ihre Schwester ja nicht viel Vergnügen zu haben«, sagte ich. Sie sah mich unter ihren langen Wimpern an. Das war der Blick, der so umwerfend wirken sollte.
    Ich sagte: »Macht Ihnen das Spaß, Pfeilwerfen?«
    »Hmhm.«
    »Das erinnert mich an etwas.« Ich blickte zurück zum Haus.
    Ich ging einen Schritt weiter, so daß ich durch einen Baum abgedeckt war. Ich zog ihre kleine Perlmuttkanone aus der Tasche. »Ich hab Ihnen Ihre Artillerie zurückgebracht. Sie ist geputzt und geladen. Ein guter Tip: Schießen Sie nicht wieder auf Leute, bevor Sie besser schießen können. Klar?«
    Ihr Gesicht wurde blasser, und ihr dünner Daumen plumpste runter. Sie sah erst mich an, dann die Pistole, die ich festhielt.
    Etwas Fasziniertes war in ihrem Blick. »Ja«, sagte sie und nickte. Dann plötzlich: »Bringen Sie mir bei, wie man schießt.«
    »Was?«
    »Zeigen Sieś mir. Ich mag das.«
    »Hier? Hier ist das verboten.«
    Sie trat dicht auf mich zu und nahm mir die Pistole aus der Hand, ihre Hand schmiegte sich um den Griff. Dann schob sie sie rasch in ihre Hosentasche, fast verstohlen, und blickte sich um.
    »Ich weiß, wo«, hauchte sie mir geheimnisvoll zu. »Unten, bei den alten Bohrlöchern.« Sie wies den Berg hinunter.
    »Zeigen Sieś mir?«
    Ich blickte in ihre schieferblauen Augen. Genausogut hätte ich in zwei Flaschenhälse gucken können. »In Ordnung. Geben Sie mir die Kanone zurück, bis ich weiß, ob sichś dort machen läßt.« Sie lächelte und zog eine Schnute, dann reichte sie sie mir verstohlen zurück, als gäbe sie mir ihren Zimmerschlüssel.
    Wir gingen die Stufen hinauf und herum zu meinem Wagen.
    Der Garten schien verlassen. Der Sonnentag war leer wie das Lächeln eines Oberkellners. Wir stiegen in den Wagen und fuhren die Hohlwegauffahrt hinunter und zum Tor hinaus.
    »Wo ist Vivian?« fragte ich.
    »Noch nicht auf.« Sie kicherte.
    Ich fuhr weiter den Hügel hinab durch die stillen, vornehmen Straßen, deren Gesichter vom Regen reingewaschen waren, bog ostwärts nach La Brea, dann nach Süden. Wir erreichten den Ort, den sie meinte,

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