Der große Sprung
Instrumente verlassen, die uns versichern, daß wir uns Barnards Zielstern mit hoher Geschwindigkeit nähern – oder vielleicht nähert er sich uns. Wer weiß? Bewegung ist rein relativ. Und relativ zu unserem bekannten Universum bewegen wir uns mit einer theoretisch fast unmöglichen Geschwindigkeit. Relativ zu einem anderen Universum oder Materiezustand könnte es natürlich durchaus sein, daß wir stillstehen.«
»Wenn ihr Wissenschaftler eurer Phantasie nachgebt, wird mir übel. Es klingt alles so verrückt.«
»Ist es aber nicht. Grooms Theorie, nach der Ballantyne seinen Antrieb konstruierte, besagt, daß die sogenannte Lichtgeschwindigkeitsgrenze real ist, und daß Materie, die Überlichtgeschwindigkeit erreicht, in eine andere Ebene atomarer Schwingungen überwechselt oder in einen anderen Aggregatzustand und so ein geschlossenes Vakuum in einem Kontinuum schafft, in dem Energie weder hinzugewonnen noch verloren werden kann. Deshalb das Massenantriebsfeld, in dem das Schiff die während der ursprünglichen Beschleunigungsphase angesammelte kinetische Energie benutzt. Der Antrieb funktioniert, ob das die Theorie beweist, steht nicht fest. Jedenfalls kommt es dabei zu einer ungemein interessanten Verzerrung der Zeit …«
Comyn, der zwar aufmerksam zuhörte, aber nur die Hälfte verstand, fühlte sich immer stärker von diesem alptraumhaften Gefühl der Unwirklichkeit bedrängt. Er kämpfte dagegen an, denn schließlich mußte er sich voll und ganz mit dem leider sehr wirklichen Problem beschäftigen, dem er sich gegenüber sah.
»… Vickrey hat sich auf der Hinfahrt viele Notizen über das Zeitproblem gemacht«, sagte Roth. »Die Chronometer funktionierten, aber liefen sie noch synchron mit der Erdzeit? Es bestand keine Möglichkeit, das nachzuprüfen. Nach unserer Berechnung brauchten sie so und so viele Monate für den ersten großen Sprung. Vickreys Wort dafür war ›Ewigkeit‹ – ein vager Begriff. Wieviel Zeit ist vergangen, seit wir auf den Sternenantrieb umgeschaltet haben? Nach meiner Meinung ist das Zeitgefühl …«
Comyn drückte seine Zigarette aus und verließ gereizt die Aufenthaltskabine. All dieses wissenschaftliche Theoretisieren ging ihm auf die Nerven. Er war Realist. Für ihn war ein Stuhl ein Stuhl, ein Tisch ein Tisch, und eine Stunde hatte sechzig Minuten. Solange er sich an reale Dinge klammern konnte, war die Welt für ihn in Ordnung.
Er kramte eine Flasche aus seinem Spind. Sie enthielt zwar nicht gerade die Art von Beruhigungsmittel, an das Dr. French gedacht hatte, aber die fünfundvierzigprozentige Flüssigkeit würde vielleicht den gleichen Zweck erfüllen, und er hatte mehr Genuß davon. Er trank und dachte an Sydna und fragte sich, ob sie wirklich an kein Morgen für sie beide geglaubt hatte. Vermutlich. Er wünschte sich, sie wäre hier, war jedoch andererseits froh, daß sie es nicht war. Nach einer Weile versuchte er dem Antriebsgeräusch zu lauschen: dem Geräusch, das er in den Zähnen und mit jedem Nervenstrang spürte und das seine Ohren doch nicht aufnehmen konnten. Er fluchte, leerte ein weiteres Glas und legte sich schlafen. Es war schon eine verdammte Art und Weise, sich auf diesem Flug zu den Sternen die Zeit totzuschlagen, aber viel anderes gab es nicht zu tun. Selbst die Wissenschaftler konnten nicht viel mehr tun, als ihre Instrumente zu überprüfen. Die Flugingenieure hatten nur dann etwas zu tun, wenn von einem auf den anderen Antrieb umgeschaltet werden mußte. Und die Navigatoren konnten auch nur herumsitzen, außer, wenn das Schiff mit Normalgeschwindigkeit flog. Auf Sternenantrieb geschaltet, ging alles automatisch. Keine menschliche Besatzung hätte es dann manuell fliegen können. Also blieb den Navigatoren nur die nicht einmal erforderliche Beobachtung der Anzeiger und die Hoffnung, daß alles richtig funktionierte.
Comyn wälzte sich immer wieder herum und träumte, aber es waren keine angenehmen Träume. Er schreckte hoch und würgte an der abgestandenen Luft – er hatte das Gefühl, keine richtige Luft mehr eingeatmet zu haben, seit er zum Mond geflogen war –, dann wurde er sich erst allmählich des Läutens der Glocke bewußt, die zum Essen rief.
Wachsam nach links und rechts schauend trat er aus der Kabine. Er hatte keine Angst vor Schußwaffen. Die Waffenkammer des Schiffes war verschlossen und keinem war eine gefährlichere Waffe als ein Taschenmesser zugestanden worden. Peter Cochrane ging keine Risiken ein, denn mit Hysterie,
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