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Der große Stier

Der große Stier

Titel: Der große Stier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Sanborn
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konnte er fließendes Wasser rauschen hören.
    »Guten Morgen, guten Morgen …« Als sie die Tür öffnete, war ihre Stimme kaum ein Piepsen.
    »Guten Morgen. Ich heiße Paul Odeon. Ich habe –«
    »Kommen Sie rein, um Gottes willen, es ist kalt!«
    Paul machte einen Riesenschritt nach vorn.
    »Und ziehen Sie den Mantel aus. Schon gefrühstückt?« Die alte Dame nahm eine schwarze Zigarette aus dem Mundwinkel und lächelte; dabei zeigte sie ein Mosaik von Goldzähnen in einer unregelmäßigen Reihe.
    »Sie sind Mrs … . Flossie?«
    »Wenn ich’s nicht bin, lassen Sie das Wasser auf den Fußboden eines anderen tropfen.«
    Paul sah auf seine Stiefel hinunter.
    »Wirf sie in die Ecke neben die Tür.« Sie klemmte sich die Zigarette wieder zwischen die Lippen und ging in die Küche.
    Paul zog seine Parka aus und bückte sich, um die Schnürsenkel zu lösen.
    »Ein Ei oder zwei?« Die piepsende Stimme klang ungeduldig. »Es sind kleine, nimm lieber zwei.«
    »Zwei«, sagte Paul, um sich aus der Affäre zu ziehen.
    »Wie heißt du überhaupt?«
    »Paul Odeon. Ich wollte nur –«
    »Ich heiße Flossie. Dotter nach oben oder andersrum?«
    »Andersrum …« Wenigstens war er seine Stiefel los.
    »Hab keine Brötchen gebacken. Tut’s Brot auch?«
    »Brot ist ausgezeichnet«, sagte Paul und ging in die Küche.
    »Da ist Kaffee. Nimm dir Zucker.«
    Während Paul ärgerlich die Eier in der Pfanne wendete, studierte er ihr Gesicht. Sie hatte harte Züge, wie Risse in Porzellan. Auch ihre Hände waren unglaublich runzlig, aber sie bewegte sie mit der Schnelligkeit und Genauigkeit eines Menschen, der beim Pokerspiel selten verliert.
    »Du bist neu in der Gegend, was?« sagte sie und ließ die Eier auf einen Teller gleiten. »Arbeit für die Regierung?«
    »Nein, ich bin Autor. Dies ist eine Art Urlaub für mich.«
    »Und was schreibst du?«
    »Artikel. Sie würden sie, schätze ich, Klatschgeschichten nennen. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin. Ich habe zufällig –«
    »Iß deine Eier, eh’ sie kalt werden.«
    »Oh, Verzeihung.«
    »Du bist hier – weswegen?«
    »Ich bin an einem Mann namens Richard Stier interessiert.« Paul bemerkte keine sichtbare Reaktion und nahm einen Happen Ei. »Da Sie in der Schule hier in Dawson unterrichtet haben, dachte ich, Sie –«
    »Richard. Ja. Er macht’s gut draußen, ich kann ihm nur das beste wünschen.«
    »Sie haben ihn also gekannt?«
    »Klar! Hab ihm mehr als einmal das Leben gerettet.«
    Paul blies auf seinen Kaffee und wartete.
    »Wie diese Kinder immer über Richard hergefallen sind … schrecklich! Er war auch man bloß ein kleiner Grünschnabel.«
    »Warum sind sie … über ihn hergefallen?«
    »Richard war anders als sie. Er ist ein uneheliches Kind, weißt du, seine Mutter und sein Vater haben nie geheiratet. Und seine Mutter zog ihn immer so komisch an. War nicht ihre Schuld, die arme Frau, sie hatte nie Geld für ordentliche Kleidung …« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah finster zur Decke hoch. »Sie nähte immer Kleider aus Bettlaken, der arme Kerl war gewöhnlich vom Kopf bis zu den Füßen weiß angezogen, wenn er zur Schule kam. Daß seine Mutter Indianerin war machte ihn bei den anderen Kindern nicht gerade beliebter.«
    »Weiße Bettlaken … Kannten Sie die Eltern?«
    »Sein Vater hat sich in Alaska das Leben genommen, seine Mutter ist an der Grippe oder so etwas gestorben.«
    »Wer hat denn für ihn gesorgt?«
    »Leute von der Kirche wollten ihn holen, Anglikaner und auch Katholiken. Sie bekamen eine Prämie von der Regierung, wenn sie die Indianerkinder aufnahmen. Die Prämie ging natürlich in ’n Bach, als sie ihn nicht finden konnten.«
    »Wo war er?«
    »Weiß nicht genau. Hatte immer so einen heimlichen Verdacht, daß die Buschindianer ihn sich geholt haben. Aber andererseits … einer von den Trappern hat gesagt, er wäre bei den Eskimos in Aklavik. Kein Wunder, daß er so verrückte Musik schreibt.«
    »Ich bin erstaunt, daß Sie die hier oben gehört haben.«
    »Hier oben hab ich sie nicht gehört.« Sie wischte sich den Mund mit dem Schürzenzipfel’ab. »Hab sie unten in Vancouver gehört, als ich mal nach draußen ging, meinen Bruder zu begraben.«
    »Aber er hat hier oben geheiratet, eine Franko-Kanadierin … Und er hat ein Haus in Whitehorse.«
    »Ist mir neu. Noch Kaffee?«
    »Nein, danke. Haben Sie etwa zufällig ein altes Bild von ihm? Ein Klassenfoto oder irgend sowas?«
    »Richard ist der einzige, von dem ich kein

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