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Der große Stier

Der große Stier

Titel: Der große Stier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Sanborn
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sich den Kopf und faltete den oberen Teil der Decke säuberlich über ihre Brust.
    »Es kommt aus Stratford. Es heißt ›Dringende Zusammenkunft im Adventuary neunten Dezember mittags. Ihre Teilnahme notwendig‹. Und es ist unterzeichnet ›Richard Stier‹.«
    »Richard!«
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
    »Wie meinst du das?«
    Paul fing an auf und ab zu gehen. »Woher weiß er, daß ich in Dawson bin? Woher könnte das irgend jemand in Stratford wissen?«
    »Hast du es ihnen nicht erzählt?«
    »Nein.« Er las das Telegramm noch einmal. »Sagtest du nicht, du hättest in Whitehorse eine Notiz für Naasook zurückgelassen?«
    »Ja.«
    »Was stand darauf?«
    »Daß du nach Dawson wolltest, und daß ich mit dir hingehn würde.«
    »Dann ist es das! Naasook muß es ihnen erzählt haben. Er weiß, wo Stier ist, er hat es wahrscheinlich die ganze Zeit gewußt.«
    »Aber … Naasook hätte es mir gesagt.«
    »Es gibt nur eine Möglichkeit, es festzustellen. Geht heute nachmittag ein Flugzeug nach Whitehorse ab?«
    »Das gleiche Flugzeug, mit dem wir gekommen sind. Es kehrt heute abend zurück.«
    »Dann fliegen wir lieber zurück.«
    »Paul?«
    »Ja?«
    »Wir haben Zeit …« Sie sank in das Kopfkissen zurück und lächelte. »Mehrere Stunden …«
    Paul ging wieder an das Bett. »Weißt du, was Geißeln sind?«
    »Geißeln?«
    »Sie werden benutzt, um Tieren die Füße zusammenzubinden, damit sie nicht fortlaufen …« Er faltete das Telegramm zusammen und ließ es zu Boden fallen.
    Adrianne hob einen Zipfel der Bettdecke hoch. »Warum soll ich über solche Sachen Bescheid wissen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Paul und legte sich neben sie. »Ich dachte nur gerade.«
    »Es ist so schwierig für mich, dich zu verstehen«, sagte sie und streckte die Arme nach ihm aus.
     
    Sie kamen kurz vor zehn Uhr in Whitehorse an.
    Vor dem Haus fanden sie Naasook, in sitzender Stellung in den Schnee gestützt, erfroren.
    An der linken Hand trug er keinen Handschuh; Paul bog die steifen Finger auseinander und fand einen kleinen Klumpen blauen Lehms.
     
    Am Morgen des neunten Dezembers meldeten sich Paul und Adrianne im Recurrence Hotel zu Stratford an. Der Raum war klein und enthielt nur ein Einzelbett, einen Tisch und einen Stuhl; aber es gehörten ein Bad und ein enges WC dazu.
    Für dreiunddreißig Dollar täglich war das sehr günstig; in Stratford waren die Zimmer seit Wochen vorbestellt. Und während Tausende neuankommender Schneekinder in dem sich ausbreitenden Zeltlager am Stadtrande Unterkunft und Verpflegung fanden, hatten die Fernsehteams, Reporter und nichtoffizielle Würdenträger aus der ganzen Welt in den altmodischen Hotels von Stratford Zuflucht gesucht.
    »Ich kann mich noch daran erinnern«, sagte Paul und zwängte einen Drahtkleiderbügel in die Schultern der Silberfuchsparka, »daß ich mich einmal in Boston zusammen mit meiner eigenen Schwester in einem Ho tel angemeldet habe. Kannst du dir vorstellen, daß ich nicht den Mut hatte, dem Hoteldiener zu sagen, sie sei meine Schwester? Ich habe gesagt, sie wäre meine Frau.«
    »Ich wußte gar nicht, daß du eine Schwester hast«, sagte Adrianne. »Die Sache war die, daß der Hoteldiener sich nur sicher fühlen würde, wenn ich ihm die richtige Lüge erzählte. Die Wahrheit galt nicht.«
    »Aber uns hast du nicht als Mann und Frau angemeldet …«
    »Stimmt. Die Hotels und ich sind also quitt.«
    »Es ist bald Mittag.«
    »Ich weiß«, sagte Paul und sah auf seine Uhr. »Ziehst du dich nicht um?«
    »Nein. Ich habe diesen Mantel aus einem bestimmten Grund angezogen. Er hat eine Kapuze, und ich möchte nicht gern erkannt werden, wenn wir zum Ad ventuary gehen.«
    »Wie dir’s beliebt. Was trägst du darunter?«
    »Nichts.« Sie zwinkerte. »Würdest du’s gern sehen?«
    »Dann kämen wir bestimmt nicht rechtzeitig zu der Zusammenkunft …«
    Adrianne ging ans Fenster. »Paul, ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn wir dorthin gehen. Aber wenn du Richard siehst, wenn wir ihn treffen –«
    »Hast du mich nicht genug erprobt? Sieh mal: Ich weiß, was ich tue. Und du auch. Also warten wir doch einfach ab, was geschieht.«
    Adrianne sah weiter aus dem Fenster, als Paul eine khakifarbene Hose aus seinem Koffer zog, sich eine Zigarette aus seiner schwarzen Jacke nahm und ins Badezimmer ging.
    Der kurze Weg vom Hotel bis. zum Adventuary dauerte fast eine halbe Stunde. Die Gehsteige und Straßen waren von durcheinanderwirbelnden Schneekindern erfüllt, die sich

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