Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
versuchte, nach Sierra City zu kommen. Solange Jimmy Carter bei mir stand, würde niemand anhalten.
»Wie lange leben Sie denn schon auf der Straße?«, fragte er und zog einen Stift und einen langen, schmalen Reporterblock aus der Gesäßtasche seiner dünnen Kordhose. Seine Haare waren zottig und ungewaschen. Die Stirnfransen verbargen seine dunklen Augen oder auch nicht, je nachdem wie der Wind gerade blies. Er kam mir vor wie jemand, der in irgendeinem exotischen Fach, unter dem sich kaum jemand etwas vorstellen konnte, seinen Doktor gemacht hatte. »Geschichte des Bewusstseins« etwa oder »Vergleichende Studien zu Diskurs und Gesellschaft«.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht auf der Straße lebe«, erwiderte ich und lachte. Da ich dringend eine Mitfahrgelegenheit brauchte, war ich von Jimmy Carters Gesellschaft natürlich wenig begeistert. »Ich wandere auf dem Pacific Crest Trail«, wiederholte ich und zeigte zur Verdeutlichung auf den Wald, der bis an die Straße heranreichte, obwohl der PCT in Wahrheit rund vierzehn Kilometer weiter westlich verlief.
Er starrte mich verdutzt und verständnislos an. Es war mitten am Vormittag und schon sehr warm, einer von den Tagen, an denen es mittags brütend heiß wird. Ich fragte mich, ob er mich riechen konnte. Ich selbst war über den Punkt hinaus, wo ich mich riechen konnte. Ich trat einen Schritt zurück und ließ resigniert den Daumen sinken. Solange er hier herumstand, hielt sowieso niemand an.
»Der gehört zu den staatlich ausgewiesenen Fernwanderwegen«, erklärte ich ihm, aber er sah mich nur weiter an, einen geduldigen Ausdruck im Gesicht, den Notizblock in der Hand. Während ich ihm erklärte, was der PCT war und was ich hier tat, fiel mir auf, dass Jimmy Carter gar nicht schlecht aussah. Ich fragte mich, ob er vielleicht etwas zu essen im Wagen hatte.
»Aber wenn Sie auf einem Wildnispfad wandern, was machen Sie dann hier?«, fragte er.
Ich erklärte ihm, dass ich die Schneemassen im Lassen Volcanic National Park umging.
»Wie lange sind Sie schon auf der Straße?«, fragte er wieder.
»Ich bin seit einem Monat auf dem Trail «, antwortete ich und sah zu, wie er sich das notierte. Ich fragte mich, ob ich nicht vielleicht doch ein wenig Hobo war, wenn ich bedachte, wie viel Zeit ich mit Trampen und Umgehen zubrachte, hielt es aber für ratsam, den Gedanken für mich zu behalten.
»Wie oft hatten Sie in diesem Monat nachts ein Dach über dem Kopf?«, fragte er.
»Dreimal«, antwortete ich nach kurzem Überlegen – die Nacht bei Frank und Annette und jeweils eine Nacht in den Motels in Ridgecrest und Sierra City.
»Ist das alles, was Sie besitzen?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf meinen Rucksack und meinen Skistock.
»Ja. Das heißt, ich habe noch ein paar Sachen auf Lager, aber im Moment ist das alles.« Ich legte die Hand auf das Monster. Er kam mir immer wie ein Freund vor, aber in Jimmy Carters Gesellschaft noch mehr.
»Na, dann würde ich Sie als Hobo bezeichnen!«, sagte er fröhlich und bat mich, meinen Vornamen und Nachnamen zu buchstabieren.
Ich tat es und bereute es sofort.
»Das gibt’s doch nicht!«, rief er, als er alles auf seinem Blatt hatte. »Heißen Sie wirklich so?«
»Ja«, antwortete ich und drehte mich weg, als hielte ich nach einem Auto Ausschau, damit er das Zögern in meinem Gesicht nicht bemerkte. Es war gespenstisch still, bis ein Langholzlaster um die Ecke kam und vorbeidonnerte, ohne von meinem flehenden Daumen Notiz zu nehmen.
»Dann«, fuhr Jimmy Carter fort, als der Laster vorüber war, »könnte man ja sagen, dass Sie Ihrem Namen alle Ehre machen.«
»So würde ich das nicht sehen«, stammelte ich. »Ein Hobo und ein Wanderer sind nicht miteinander zu vergleichen.« Ich schob die Hand in die rosa Halteschlaufe des Skistocks, kratzte mit der Spitze in die Erde und zog eine Linie, die nirgendwohin führte. »Ich bin nicht so eine Wanderin, wie Sie sich vielleicht vorstellen«, erklärte ich. »Ich bin eher eine Extremwanderin. Ich lege fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer am Tag zurück, die Berge rauf und runter, fernab von Straßen und Menschen und allem. Oft sehe ich tagelang keine Menschenseele. Vielleicht sollten Sie lieber darüber einen Artikel schreiben.«
Er schaute kurz von seinem Notizblock auf, die Haare flatterten ihm wirr ins blasse Gesicht. Er kam mir vor wie so viele Leute, die ich kannte. Ich fragte mich, ob es ihm mit mir ebenso erging.
»Ich treffe selten einen
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