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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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zu berichten hatte, also stellte ich ihm nur eine lange Reihe von Fragen. Wie es ihm gehe. Was er so mache. Mit wem er seine Zeit verbringe. Und ob er den in der Postkarte, die er mir nach Kennedy Meadows geschickt hatte, angedeuteten Ausstieg aus dem Heroin geschafft habe und clean sei. Ich hoffte es. Nicht um meinetwillen, um seinetwillen. Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es in einen Umschlag, den mir Trina gegeben hatte. Ich pflückte auf der Wiese ein paar Blumen und legte sie in den Umschlag, bevor ich ihn zuklebte.
    »Ich werfe den kurz ein«, sagte ich zu den anderen und ging im Schein meiner Stirnlampe durchs Gras und dann den Feldweg entlang zu dem Briefkasten, der vor dem geschlossenen Laden stand.
    »Hallo, schöne Frau!«, rief mir eine Männerstimme nach, als ich den Brief eingeworfen hatte. Ich sah nur die Glut einer brennenden Zigarette auf der dunklen Veranda.
    »Hey«, antwortete ich unsicher.
    »Ich bin’s, der Barkeeper«, sagte der Mann und trat vor in das schwache Licht, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. »Wie hat Ihnen der Wein geschmeckt?«, fragte er.
    »Oh. Hey. Ja, das war wirklich nett von Ihnen. Danke.«
    »Ich arbeite noch«, sagte er und schnippte die Asche seiner Zigarette in einen Pflanztopf. »Aber nachher habe ich frei. Mein Wohnwagen steht gleich da drüben. Vielleicht haben Sie Lust, rüberzukommen und ein bisschen zu feiern. Ich kann eine Flasche von dem Grauburgunder besorgen, wenn Sie möchten.«
    »Danke«, sagte ich. »Aber ich muss morgen früh raus und weiterwandern.«
    Er nahm noch einen Zug von der Zigarette, deren Spitze hell aufglomm. Ich hatte ihn eine Weile beobachtet, nachdem er mir den Wein gebracht hatte. Ich schätzte ihn auf dreißig. Er sah gut aus in seinen Jeans. Warum sollte ich nicht zu ihm gehen?
    »Na, Sie können es sich ja noch überlegen«, sagte er. »Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung.«
    »Ich habe dreißig Kilometer vor mir«, erwiderte ich, als ob ihm das irgendetwas sagte.
    »Sie könnten bei mir schlafen«, sagte er. »Sie können mein Bett haben. Ich kann auf der Couch schlafen, wenn Sie möchten. Ich wette, ein Bett tut gut, wenn man ständig nur auf dem Boden geschlafen hat.«
    »Ich habe da drüben alles schon aufgebaut.« Ich deutete in Richtung Wiese.
    Mit einem mauen Gefühl kehrte ich zu meinem Lagerplatz zurück. Ich fühlte mich durch sein Interesse gleichermaßen verwirrt wie geschmeichelt, und ein begehrliches Kribbeln ließ mich erschauern. Die Frauen hatten sich bereits zum Schlafen in ihre Zelte zurückgezogen, als ich wiederkam, aber Brent war noch auf, stand im Dunkeln und blickte zu den Sternen.
    »Schön, nicht?«, flüsterte ich und schaute mit ihm nach oben. Dabei kam mir zu Bewusstsein, dass ich kein einziges Mal geweint hatte, seit ich auf dem Trail war. Wie war das möglich? In den letzten Jahren hatte ich so oft geweint, dass ich es kaum fassen konnte. Doch es stimmte. Bei der Erkenntnis brach ich fast in Tränen aus, doch stattdessen lachte ich.
    »Was ist denn so lustig?«, fragte Brent.
    »Nichts.« Ich blickte auf meine Uhr. Es war Viertel nach zehn. »Normalerweise schlafe ich um die Zeit tief und fest.«
    »Ich auch«, sagte Brent.
    »Aber heute Abend bin ich hellwach.«
    »Das liegt an der Aufregung, weil wir in einer Stadt sind«, sagte er.
    Wir lachten beide. Ich hatte die Gesellschaft der Frauen den Tag über genossen und war dankbar für die Art von Gesprächen, die ich seit Beginn der Wanderung nur selten gehabt hatte, aber seltsamerweise fühlte ich mich Brent näher, wenn auch nur, weil er mir vertraut vorkam. Während ich so neben ihm stand, wurde mir bewusst, dass er mich an meinen Bruder erinnerte, den ich, trotz der Distanz zwischen uns, mehr liebte als jeden anderen.
    »Wir sollten uns was wünschen«, sagte ich zu Brent.
    »Muss man dazu nicht warten, bis man eine Sternschnuppe sieht?«, fragte er.
    »Normalerweise schon«, antwortete ich. »Aber wir können neue Regeln aufstellen. Ich wünsche mir zum Beispiel Stiefel, in denen mir die Füße nicht wehtun.«
    »Man darf es nicht laut sagen!«, protestierte er. »Das ist wie beim Ausblasen der Geburtstagskerzen. Man darf niemandem sagen, was man sich wünscht. Sonst geht es nicht in Erfüllung. Deine Füße sind total im Eimer.«
    »Nicht unbedingt«, sagte ich empört, obwohl ich wusste, dass er recht hatte.
    »Okay, ich habe mir was gewünscht«, sagte er. »Jetzt du.«
    Ich starrte einen Stern an, aber mir gingen so viele Dinge durch

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