Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
immer noch weit mehr waren als die rund hundert, die jedes Jahr den PCT in Angriff nahmen. Wanderer auf dem AT übernachteten meistens in oder in der Nähe von Herbergen, die es entlang des Weges gab. Die Abstände zwischen den Versorgungsstationen waren kürzer, und die meisten lagen in richtigen Städten im Unterschied zum PCT, wo sie oft nur aus einer Poststelle, einer Bar und einem kleinen Laden bestanden. Ich stellte mir die australischen Flitterwöchler vor, wie sie jetzt ein paar Kilometer von ihrem Trail entfernt in einem Pub Cheeseburger aßen und Bier süffelten und später unter einem Holzdach nächtigten. Wahrscheinlich hatten sie von ihren Wanderkollegen Spitznamen bekommen, noch so eine Gepflogenheit, die auf dem AT weit üblicher war als auf dem PCT, obwohl man auch hier dazu neigte. Als Greg, Matt und Albert von Brent erzählten, hatten sie die halbe Zeit nur von »dem Jungen« geredet, obwohl er nur ein paar Jahre jünger war als ich. Greg selbst war gelegentlich als »der Statistiker« tituliert worden, weil er so viele Fakten und Zahlen über den Trail im Kopf hatte und Buchhalter von Beruf war. Matt und Albert waren »die Eagle Scouts«, und Doug und Tom »die Popper«. Ich glaubte nicht, dass ich auch einen Spitznamen hatte, und wenn, dann wollte ich ihn lieber nicht wissen.
Trina, Stacy, Brent und ich aßen in der Bar neben dem Laden zu Abend. Nach dem Duschen, Wäschewaschen und dem Kauf der Snapple-Limonade und ein paar Snacks und sonstigen Ausgaben besaß ich noch ungefähr vierzehn Dollar. Ich bestellte einen grünen Salat und einen Teller Pommes, die beiden Speisen auf der Karte, die sowohl billig waren als auch meine stärksten Gelüste befriedigten, die ganz gegensätzlicher Natur waren: nach etwas Frischem und nach etwas Frittiertem. Zusammen kosteten sie mich fünf Dollar, sodass mir für die gesamte Strecke bis zu meinem nächsten Paket noch neun Dollar blieben. Es erwartete mich im 215 Kilometer entfernten McArthur-Burney Falls Memorial State Park, in dem es einen Laden gab, den die PCT-Hiker als Versorgungsstation nutzen durften. Ich nippte lustlos an meinem Eiswasser, während die anderen Bier schlürften. Beim Essen sprachen wir über die bevorstehende Etappe. Nach allem, was man so hörte, lag auf längeren Streckenabschnitten immer noch Schnee. Der gut aussehende Barkeeper hörte unser Gespräch zufällig mit, trat an unseren Tisch und berichtete von Gerüchten, wonach im Lassen Volcanic National Park noch fünf Meter Schnee lägen. Angeblich sprengte man die Straßen mit Dynamit frei, damit sie für die ohnehin schon kurze Touristensaison geöffnet werden konnten.
»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte er mich und sah mir in die Augen. »Auf Kosten des Hauses«, setzte er hinzu, als ich zögerte.
Er brachte mir ein Glas kalten Grauburgunder, voll bis zum Rand. Schon beim ersten Schluck wurde mir ganz schwummrig vor Wonne, genau wie bei dem Hawaiian Screwdriver am Abend zuvor. Als wir die Rechnung bezahlten, waren wir darin übereingekommen, am Morgen aus Belden aufzubrechen und auf den nächs ten achtzig Kilometern teils auf dem PCT, teils auf niedriger gelegenen Jeep-Pisten zu wandern, dann per Anhalter den eingeschneiten Abschnitt des Trails im Lassen Volcanic National Park zu umgehen und an einem Ort namens Old Station auf den PCT zurückzukehren.
Wieder im Lager, setzte ich mich in meinen Stuhl und schrieb auf einem Blatt Papier, das ich aus meinem Tagebuch gerissen hatte, einen Brief an Joe. Er hatte bald Geburtstag, und der Wein hatte meine Sehnsucht nach ihm geweckt. Ich musste daran denken, wie ich an einem Abend vor einem Jahr in einem Minirock ohne etwas darunter mit ihm in einem Park spazieren gegangen war und dann in einem entlegenen Winkel an einer Mauer Sex mit ihm gehabt hatte. Ich erinnerte mich an die Aufregung, die mich jedes Mal befallen hatte, wenn wir Heroin beschafften, und an die blauen Flecken, die seine gefärbten Haare auf meinem Kopfkissenbezug hinterlassen hatten. Ich ließ mich nicht dazu hinreißen, solche Dinge in dem Brief zu erwähnen. Ich saß da, mit dem Stift in der Hand, erinnerte mich nur und überlegte, was ich ihm über meine Zeit auf dem PCT erzählen könnte. Ich glaubte nicht, dass ich ihm begreiflich machen konnte, was in dem Monat seit unserer letzten Begegnung in Portland geschehen war. So fremd, wie mir meine Erinnerungen an den letzten Sommer waren, so fremd würde ihm wahrscheinlich alles vorkommen, was ich über diesen Sommer
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