Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
wieder so eine winzige Ortschaft, die nur aus ein paar Häusern bestand. Trina ging auf die Poststelle, um ein paar Sachen nach Hause zu schicken, und Stacy und ich warteten derweil in einem klimatisierten Café, tranken Limonade und sprachen über die nächste Etappe. Sie führte über einen Teil des Modoc Plateau namens Hat Creek Rim – eine karge Hochebene, die berüchtigt war für ihren Mangel an Wasser und Schatten, ein legendäres Teilstück eines legendären Trails. 1987 hatte in diesem trockenen und heißen Landstrich ein verheerendes Feuer gewütet. Wie ich aus The Pacific Crest Trail, Volume I: California erfuhr, gab es auf der Strecke von Old Station zu dem achtundvierzig Kilometer entfernten Rock Spring Creek keine verlässliche Wasserquelle. Zwar war die Forstverwaltung zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buchs gerade dabei, auf halber Strecke in der Nähe eines abgebrannten Feuerwachturms einen Wassertank einzurichten. Doch rieten die Autoren dringend dazu, sich vorher zu informieren, ob der Tank tatsächlich gebaut worden sei. Und selbst wenn, sei auf solche Tanks nicht immer Verlass, da sie häufig von Vandalen mit Kugeln durchsiebt würden.
Ich lutschte genüsslich an einem Eiswürfel aus meinem Glas Limonade und dachte darüber nach. Ich hatte meinen Wassersack in Kennedy Meadows zurückgelassen, da es auf den meisten Trail-Abschnitten weiter nördlich angeblich genügend Wasser gab. Im Hinblick auf die trockene Hat Creek Rim hatte ich geplant, mir eine große Kanne zu kaufen und an den Rucksack zu schnallen, hoffte aber aus finanziellen wie technischen Gründen, dass das nicht nötig sein würde. Ich wollte mein letztes bisschen Geld lieber für etwas Leckeres zu essen ausgeben als für eine Kanne, gar nicht davon zu reden, dass ich die Kanne achtundvierzig Kilometer über die Hochebene hätte schleppen müssen. Und so fiel ich vor Erleichterung fast vom Stuhl, als Trina mit einer erfreulichen Nachricht von der Post zurückkehrte: Wanderer, die in Nord-Süd-Richtung unterwegs waren, hatten ins Trail-Register eingetragen, dass der im Führer erwähnte Tank tatsächlich existierte und auch Wasser enthielt.
Überglücklich marschierten wir zu dem anderthalb Kilometer entfernten Campingplatz und bauten nebeneinander unsere Zelte auf. Es war unser letzter gemeinsamer Abend. Trina und Stacy wollten am nächsten Tag weiter, ich hatte dagegen beschlossen, eine Pause einzulegen. Ich wollte wieder allein wandern und außerdem meine Füße pflegen, die sich noch von den Blasen erholen mussten, die ich mir beim Abstieg von den Three Lakes geholt hatte.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich den Zeltplatz ganz für mich allein. Ich setzte mich an den Picknicktisch, trank Tee aus meinem Kochtopf und verbrannte die letzten Seiten von Dresden, Pennsylvania. Der Professor, der über Michener gespottet hatte, hatte in gewisser Hinsicht recht gehabt: Er war kein William Faulkner und keine Flannery O’Connor, und trotzdem hatte mich dieses Buch in höchstem Maße gefesselt, und nicht nur wegen seines Stils. Sein Thema brachte eine Saite in mir zum Schwingen. Die Geschichte handelte von vielen Dingen, aber im Mittelpunkt stand der Werdegang eines Romans, erzählt aus der Perspektive seines Autors und seines Lektors, seiner Kritiker und seiner Leser. Ich hatte in meinem Leben viele Dinge getan und viele Seiten meines Ichs ausgelebt, doch in einer Hinsicht hatte ich mich nie geändert: Ich war eine Schriftstellerin. Eines Tages wollte ich selbst einen Roman schreiben. Es erfüllte mich mit Scham, dass ich noch keinen geschrieben hatte. In meinen Träumen zehn Jahre zuvor war ich mir sicher gewesen, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt mein erstes Buch veröffentlicht haben würde. Ich hatte mehrere Kurzgeschichten geschrieben und mich auch ernsthaft an einem Roman versucht, war aber noch weit von einem fertigen Buch entfernt. In dem bewegten letzten Jahr hatte ich das Gefühl gehabt, ich würde nie wieder schreiben können, doch beim Wandern spürte ich, dass dieser Roman wieder zu mir zurückkam, seine Stimme sich unter die Liedfetzen und Werbe-Jingles mischte. An dem Morgen in Old Station, als ich Micheners Buch in Portionen von fünf bis zehn Seiten zerriss, damit es besser brannte, und an der Feuerstelle neben meinem Zelt niederkauerte, um sie anzuzünden, da beschloss ich, damit anzufangen. Ich hatte nichts weiter als einen langen, heißen Tag vor mir, also setzteich mich an den Picknicktisch und schrieb bis
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