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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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struppigen Hals, dass widerspenstige Gedanken, wie ich hoffte, gar nicht erst bei ihm aufkamen.Nach ein paar Minuten erschien auf dem Pfad eine alte Frau mit zwei grauen Zöpfen.
    »Sie haben es eingefangen! Vielen Dank«, rief sie mit einem breiten Lächeln und strahlenden Augen. Abgesehen von dem kleinen Rucksack auf ihrem Rücken wirkte sie wie einem Märchen entsprungen, koboldhaft, mollig und rotbackig. Hinter ihr lief ein kleiner Junge, dem wiederum ein großer brauner Hund folgte. »Ich habe es nur einen Moment losgelassen, und schon war es auf und davon«, sagte die Frau lachend und nahm mir den Strick des Lamas ab. »Ich dachte mir schon, dass Sie es einfangen würden. Ich bin Ihren Freunden begegnet, und die haben mir gesagt, dass Sie da langkommen. Ich heiße Vera, und das ist mein Freund Kyle.« Sie deutete auf den Jungen. »Er ist fünf.«
    »Hallo, Kyle«, sagte ich und schaute zu ihm hinab. »Ich heiße Cheryl.« An einer dicken Schnur trug er über der Schulter eine mit Wasser gefüllte Ahornsirupflasche, die für mich ein ebenso seltsamer Anblick war – Glas auf dem Trail – wie er selbst. Es war eine Ewigkeit her, dass ich mit einem Kind zusammen gewesen war.
    »Hallo«, antwortete er und schaute aus seinen meergrünen Augen zu mir auf.
    »Und Shooting Star haben Sie ja schon kennengelernt«, sagte Vera und tätschelte dem Lama den Hals.
    »Du hast Miriam vergessen«, sagte Kyle zu ihr und legte dem Hund seine kleine Hand auf den Kopf. »Das ist Miriam.«
    »Hallo, Miriam«, sagte ich. »Macht dir das Wandern Spaß?«, fragte ich Kyle.
    »Wir haben eine wunderbare Zeit«, antwortete er merkwürdig förmlich, lief zur Quelle und planschte mit den Händen im Wasser.
    Während er Grashalme ins Wasser warf und zusah, wie sie davontrieben, plauderte ich mit Vera. Sie erzählte mir, dass sie in einer Kleinstadt im Herzen Oregons lebe und so oft wie möglich wandern gehe. Und dann raunte sie mir zu, dass Kyle und seine Mutter sich in einer schrecklichen Situation befunden und in Portland auf der Straße gelebt hätten. Vera hatte sie erst vor ein paar Monaten durch eine christliche Hilfsorganisation namens Basic Life Principles kennengelernt. Kyles Mutter hatte Vera gebeten, Kyle auf diese Wanderung mitzunehmen, solange sie versuchte, ihr Leben in Ordnung zu bringen.
    »Du hast versprochen, dass du niemand von meinen Problemen erzählst«, schrie Kyle aufgebracht und kam zu uns herübergelaufen.
    »Ich erzähle nicht von deinen Problemen«, sagte Vera freundlich, obwohl es nicht stimmte.
    »Weil, ich habe große Probleme, und ich möchte fremden Leuten nicht davon erzählen«, sagte Kyle und richtete seinen Blick wieder auf mich.
    »Viele Leute haben große Probleme«, sagte ich. »Ich habe auch große Probleme gehabt.«
    »Was für Probleme?«, fragte er.
    »Zum Beispiel Probleme mit meinem Dad«, antwortete ich unsicher und bereute es schon im nächsten Moment. Ich hatte zu wenig Erfahrung mit Kindern und wusste nicht genau, wie ehrlich man einem Fünfjährigen gegenüber sein sollte. »Eigentlich habe ich gar keinen Dad«, setzte ich etwas fröhlicher hinzu.
    »Ich habe auch keinen Dad«, sagte Kyle. »Na ja, jeder hat einen Dad, aber ich kenne meinen nicht mehr. Früher, als ich noch ein Baby war, habe ich ihn gekannt, aber daran erinnere ich mich nicht.« Er öffnete seine Hände und schaute auf sie hinab. Sie waren voller kleiner Grashalme. Wir sahen zu, wie sie im Wind davonflogen. »Was ist mit deiner Mami?«, fragte er.
    »Sie ist tot.«
    Sein Blick sprang zu mir herauf. Der Schreck in seinem Gesicht wich einem heiteren Ausdruck. »Meine Mami singt gern«, sagte er. »Willst du ein Lied hören, das sie mir beigebracht hat?«
    »Ja«, antwortete ich, und ohne eine Sekunde zu zögern, sang er mit einer glockenhellen Stimme, die mir durch und durch ging, sämtliche Strophen von »Red River Valley«.
    »Danke«, sagte ich, tief gerührt, als er fertig war. »Das war vielleicht das Beste, was ich in meinem ganzen Leben gehört habe.«
    »Meine Mutter hat mir viele Lieder beigebracht«, sagte er feierlich. »Sie ist Sängerin.«
    Vera machte ein Foto von mir, und ich schnallte mir wieder das Monster um.
    »Auf Wiedersehen, Kyle. Wiedersehen, Vera. Wiedersehen, Shooting Star«, sagte ich und marschierte den Pfad entlang.
    »Cheryl!«, rief Kyle, als ich schon fast außer Sicht war.
    Ich blieb stehen und drehte mich um.
    »Der Hund heißt Miriam.«
    »Adios, Miriam!«, rief ich.
    Am späten Nachmittag

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