Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
in Tetley Tea!«, zwitscherte ich.
Es funktionierte. Ich begegnete dem Bären nicht wieder. Auch keinem Bigfoot.
Stattdessen stieß ich auf etwas, was ich tatsächlich fürchten musste: eine breite vereiste Schneeplatte, die den Trail an einem Vierzig-Grad-Hang bedeckte. Trotz der Hitze war der Schnee an den Nordhängen noch nicht ganz geschmolzen. Ich konnte bis zur anderen Seite sehen. Ich hätte einen Stein hinüberwerfen können. Aber mich selbst leider nicht. Ich musste gehen. Ich spähte den Hang hinunter, besah mir den Verlauf der Schneedecke, falls ich ausrutschen und in die Tiefe sausen sollte. Sie endete weit unten an einer Ansammlung schroffer Felsblöcke. Dahinter war nur Luft.
Ich bahnte mir einen Weg durch den Schnee, indem ich bei jedem Schritt mit den Stiefeln ein Loch stampfte und mich dabei mit dem Skistock abstützte. Obwohl ich in der Sierra Erfahrung mit Schnee gesammelt hatte, war ich nicht sicherer, sondern eher unsicherer geworden, da mein Bewusstsein jetzt dafür geschärft war, was schiefgehen konnte. Plötzlich rutschte ein Fuß unter mir weg, und ich fiel auf die Hände. Mit angewinkelten Knien wollte ich mich wieder aufrichten. Da schoss mir der Gedanke Ich werde abstürzen durch den Kopf, und ich erstarrte. Ich schielte nach unten zu den Felsen und stellte mir vor, wie ich in sie hineinrutschte. Ich blickte nach hinten zu der Stelle, wo ich herkam, und dann nach vorn zu der Stelle, wo ich hinwollte. Beide waren gleich weit entfernt. Beide waren zu weit entfernt, und so gab ich mir einen Ruck und setzte meinen Weg fort. Allerdings krabbelnd, auf allen vieren. Meine Beine zitterten unkontrolliert, und der Skistock, der an der rosa Nylonschlaufe von meinem Handgelenk baumelte, klapperte neben mir.
Als ich endlich auf der anderen Seite stand, kam ich mir albern und schwach vor. Ich zerfloss in Selbstmitleid und fühlte mich so schutzlos wie noch nie auf dem Trail. Ich war neidisch auf die beiden Paare, die einander hatten, und auf Rex und Stacy, die sich so problemlos zu einem Gespann zusammengetan hatten – und wenn Rex in Seiad Valley den Trail verließ, würde Stacy ihre Freundin Dee treffen und mit ihr zusammen durch Oregon wandern. Ich aber würde die ganze Zeit allein bleiben. Und wozu? Was brachte es, allein zu sein? Ich habe keine Angst, rief ich mir mein altes Mantra ins Gedächtnis, um mich zu beruhigen. Aber ich hatte dabei nicht dasselbe Gefühl wie sonst. Vielleicht weil es nicht mehr ganz der Wahrheit entsprach.
Weil ich inzwischen schon so weit war, dass ich den Mut hatte, Angst zu haben.
In meiner Mittagspause trödelte ich so lange herum, bis mich die anderen einholten. Sie erzählten mir, sie hätten einen Ranger getroffen, der sie vor einem Waldbrand im Westen und Norden bei Happy Valley gewarnt habe. Zwar sei der PCT noch nicht betroffen, doch habe er ihnen geraten, trotzdem auf der Hut zu sein. Ich ließ die anderen vorausgehen. Ich sagte ihnen, ich würde bei Einbruch der Dämmerung zu ihnen stoßen, und wanderte allein durch die Nachmittagshitze. Ein paar Stunden später kam ich auf eine idyllisch gelegene Wiese mit einer Quelle und machte Halt, um meine Trinkflaschen zu füllen. Der Platz war so schön, dass ich anschließend die Füße ins Wasser hielt und verweilte, bis ich ein immer lauter werdendes Bimmeln hörte. Ich hatte mich gerade mühsam aufgerappelt, als ein weißes Lama um die Ecke bog und mit gebleckten Zähnen direkt auf mich zugelaufen kam.
»Ah!«, schrie ich wie beim Anblick des Bären, griff aber trotzdem nach dem Führstrick, der an seinem Halfter baumelte – eine alte Gewohnheit, da ich von Kindesbeinen an mit Pferden zu tun gehabt hatte. Das Lama trug einen Packsattel, der mit silbernen Glöckchen behangen war, nicht unähnlich denen am Gürtel der Frau, die ich am Toad Lake getroffen hatte. »Brav«, sagte ich zu ihm, während ich barfuß dastand und mich verdutzt fragte, was ich jetzt tun sollte.
Auch das Lama wirkte verdutzt und machte ein gleichermaßen komisches wie ernstes Gesicht. Ich fragte mich, ob es mich beißen könnte. Es war schwer zu sagen. Ich war einem Lama noch nie so nahe gekommen. Und auch aus der Ferne hatte ich eigentlich noch nie eins gesehen. Ja, ich hatte so wenig Erfahrung mit Lamas, dass ich mir nicht einmal hundertprozentig sicher war, ob es überhaupt ein Lama war. Es roch nach Jute und schlechtem Atem. Ich zog es sanft zu meinen Sachen, stieg in meine Stiefel und streichelte ihm dann so ausgiebig den langen,
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