Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
treffen, wo sie ein paar Tage pausieren und auf ihre Freundin Dee warten wollte, um anschließend mit ihr zusammen durch Oregon zu wandern. Deshalb erschrak ich, als sie plötzlich wie ein Geist aus dem Nebel auftauchte.
»Ich gehe nach Seiad Valley zurück«, sagte sie und erklärte mir, dass sie friere und Blasen an den Füßen habe. Außerdem sei ihr Schlafsack in der Nacht nass geworden und sie habe keine Hoffnung, dass er bis zum Abend trockne. »Ich fahre mit dem Bus nach Ashland«, sagte sie. »Du findest mich in der Jugendherberge, wenn du dort bist.«
Ich umarmte sie, bevor sie weiterging, und Sekunden später war sie vom Nebel verschluckt.
Am nächsten Morgen erwachte ich früher als normal. Der Himmel zeigte sich im fahlsten Grau. Der Regen hatte aufgehört, und es war wieder wärmer. Ich war ganz aufgeregt, als ich das Monster schulterte und am Lagerplatz loswanderte. Vor mir lagen meine letzten Kilometer in Kalifornien.
Ich war nur noch einen guten Kilometer von der Grenze entfernt, als sich mein William-J.-Crockett-Armband an einem überhängenden Ast verfing und ins dichte Gestrüpp geschleudert wurde. Ich suchte fieberhaft zwischen Felsen, Sträuchern und Bäumen, wusste aber von Anfang an, dass es aussichtslos war. Ich würde das Armband nicht finden. Ich hatte nicht gesehen, wo es hingefallen war, sondern nur ein leises Klirren gehört. Es erschien mir wie der blanke Hohn, dass ich es ausgerechnet jetzt verlor. Das konnte nur ein schlechtes Omen sein. Ich versuchte, den Verlust in meinem Kopf umzudeuten und ein gutes Zeichen darin zu sehen – ein Symbol für Dinge, die ich nicht mehr brauchte, für die Befreiung von einer Last im übertragenen Sinn –, aber dann verflog dieser Gedanke, und ich dachte nur noch an William J. Crockett, den Mann aus Minnesota, der ungefähr in meinem Alter gewesen war, als er in Vietnam starb, und dessen sterbliche Überreste nie gefunden worden waren und dessen Verlust seine Familie gewiss bis heute betrauerte. Mein Armband war nichts anderes als ein Symbol für das Leben, das er zu früh verloren hatte. Das mitleidlose Universum hatte es einfach mit gierigem Rachen verschlungen.
Ich konnte nichts anderes tun, als weiterzuwandern.
Nur Minuten später erreichte ich die Grenze und blieb stehen, um den Augenblick auf mich wirken zu lassen: Kalifornien und Oregon, ein Ende und ein Anfang trafen hier zusammen. Für so einen bedeutsamen Ort sah er überhaupt nicht bedeutsam aus. Da hingen nur ein brauner Metallkasten, der das Trail-Register enthielt, und ein Schild, auf dem WASHINGTON 498 MEILEN stand. Oregon selbst wurde überhaupt nicht erwähnt.
Aber ich wusste, was sich hinter diesen 498 Meilen – 801 Kilometern – verbarg. Ich war zwei Monate lang durch Kalifornien gewandert, doch ich fühlte mich wie um Jahre gealtert seit jenem Tag, an dem ich mit meinem Rucksack allein auf dem Tehachapi Pass gestanden und davon geträumt hatte, diesen Punkt hier zu erreichen. Ich ging zu dem Metallkasten, zog das Trail-Register heraus, blätterte darin und las die Seiten der vorausgegangenen Wochen. Ich entdeckte Einträge von Leuten, deren Namen mir fremd waren, und von anderen, denen ich niemals begegnet war, die mir aber wie gute alte Bekannte vorkamen, da ich schon den ganzen Sommer hinter ihnen hertrottete. Die jüngsten Einträge stammten von den beiden Paaren, John und Sarah, Helen und Sam. Unter ihre Jubelbotschaften setzte ich meine eigene, so überwältigt vor Rührung, dass ich mich kurzfasste: »Ich habe es geschafft!«
Oregon. Oregon. Oregon.
Ich war da. Ich wanderte weiter, im Blick die Gipfel des majestätischen Mount Shasta im Süden und des niedrigeren, aber schrofferen Mount McLoughlin im Norden. Der Pfad führte auf einem Kamm entlang. Mehrmals stieß ich auf kleine vereiste Schneefelder, die ich mit Hilfe des Skistocks querte. Auf grünen Almen nicht weit unter mir grasten Kühe, deren große, eckige Glocken läuteten, wenn sie sich bewegten. »Hallo, Oregon-Kühe«, rief ich ihnen zu.
In der Nacht kampierte ich unter einem fast vollen Mond. Der Himmel war klar und kalt. Ich schlug J. M. Coetzees Roman Warten auf die Barbaren auf, las aber nur ein paar Seiten, da ich mich nicht konzentrieren konnte. Ich war mit den Gedanken in Ashland. Ich war der Stadt jetzt so nahe, dass ich es wagen durfte, an sie zu denken. In Ashland gab es Restaurants, Musik und Wein und Menschen, die nichts vom PCT wussten. Und am wichtigsten: Dort erwartete mich Geld, und
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