Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
gelangte ich an einen schattigen Platz, auf dem ein Picknicktisch stand – ein seltener Luxus auf dem Trail. Im Näherkommen sah ich, dass auf dem Tisch ein Pfirsich lag, unter dem ein Zettel klemmte.
Cheryl!
Den haben wir Tageswanderern für dich abgeluchst.
Lass ihn dir schmecken!
Sam und Helen
Natürlich war ich von dem Pfirsich begeistert – frisches Obst und Gemüse wetteiferten in meinen Essfantasien mit Snapple-Limonade –, aber darüber hinaus rührte es mich, dass Sam und Helen ihn mir dagelassen hatten. Sie litten bestimmt unter ähnlichen Heißhungerattacken wie ich. Ich setzte mich auf den Picknicktisch und biss genüsslich in den Pfirsich, dessen köstlicher Saft mich bis in die letzte Zelle zu beleben und meine Füße in eine pochende Masse aus Fruchtfleisch zu verwandeln schien. Die Freundlichkeit, der ich diesen Genuss verdankte, nahm der Hitze und den Strapazen des Tages die Spitze. Wie ich so dasaß und den Pfirsich aß, kam mir zu Bewusstsein, dass ich mich bei Sam und Helen gar nicht würde bedanken können. Ich war nun wieder zum Alleinsein bereit. Am Abend würde ich allein kampieren.
Als ich den Pfirsichkern wegwarf, bemerkte ich, dass ich von Hunderten Azaleen in Dutzenden Farbschattierungen von rosa bis hellorange umgeben war. Blütenblätter wehten im Wind davon. Ich empfand sie als Geschenk, genau wie den Pfirsich und Kyles Vortrag von »Red River Valley«. So schwierig und schwer erträglich der Trail auch sein mochte, so verging doch kaum ein Tag, der einen nicht in irgendeiner Form mit dem belohnte, was im PCT-Jargon der »Zauber des Trails« genannt wurde – mit unerwarteten, schönen Erlebnissen, die im krassen Gegensatz zu den körperlichen Qualen standen. Bevor ich aufstand, um das Monster aufzusetzen, hörte ich ein Rascheln und drehte mich um. Auf dem Pfad kam ein Reh in meine Richtung. Offensichtlich hatte es mich noch nicht bemerkt. Ich machte ein leises Geräusch, um es nicht zu erschrecken, aber statt Reißaus zu nehmen, blieb es nur stehen und sah mich an, schnupperte in meine Richtung und kam dann langsam näher. Nach jedem Schritt verharrte es, überlegte, ob es weitergehen sollte, und tat es dann jedes Mal, kam immer näher und näher, bis es nur noch drei Meter von mir entfernt war. Es betrachtete mich mit einem ruhigen und neugierigen Ausdruck im Gesicht und streckte mir die Nase so weit entgegen, wie es sich traute. Ich saß reglos da und beobachtete es, verspürte aber kein bisschen Angst wie noch vor Wochen, als ich im Schnee von dem Fuchs in Augenschein genommen worden war.
»Schon gut«, flüsterte ich dem Reh zu, bevor ich mir dessen bewusst wurde. »Du bist sicher auf dieser Welt.«
Danach war der Bann gebrochen. Das Reh verlor jedes Interesse an mir, sprang aber immer noch nicht davon. Es hob nur den Kopf und schritt davon, stelzte mit seinen zarten Hufen durch die Azaleen, knabberte im Vorübergehen an den Pflanzen.
Die nächsten paar Tage wanderte ich allein. Auf der langen, heißen und anstrengenden Etappe nach Seiad Valley ging es in stetem Wechsel bergauf und bergab, über den Etna Summit und weiter in die Marble Mountains, vorbei an Seen, wo ich mich zum Schutz gegen die lästigen Attacken von Stechmücken zum ersten Mal auf der Reise mit Insektenschutzmittel einreiben musste, und auf Pfaden von Tagesausflüglern, die mir von den Flächenbränden berichteten, die im Westen wüteten, aber den PCT noch nicht bedrohten.
Eines Abends lagerte ich auf einer kleinen Wiese, von der aus ich ein erstes Anzeichen dieser Brände sehen konnte: Ein weißer Rauchschleier verhüllte den westlichen Horizont. Ich saß eine Stunde lang in meinem Stuhl und blickte über das Land, als die Sonne im Rauch versank. Ich hatte auf dem PCT viele atemberaubende Sonnenuntergänge erlebt, aber dieser war so spektakulär wie schon lange keiner mehr. Das Licht zerfloss über den wogenden grünen Hügeln in tausend Schattierungen von Gelb, Rosa, Orange und Lila. Ich hätte in Dubliner lesenoder im Kokon meines Schlafsacks in Schlaf sinken können, aber an diesem Abend war der Himmel so faszinierend, dass ich mich nicht von ihm losreißen konnte. Während ich ihn betrachtete, kam mir zu Bewusstsein, dass ich die Hälfte der Wanderung hinter mir hatte. Ich war seit über fünfzig Tagen auf dem Trail. Wenn alles wie geplant lief, war ich in weiteren fünfzig Tagen mit dem PCT fertig. Was immer mit mir hier draußen geschehen sollte, würde geschehen sein.
»Oh remember the Red
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