Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
River Valley and the Cowboy who loved you so true … «, sang ich, bis sich meine Stimme verlor, da ich nicht wusste, wie der Text weiterging. Im Geiste sah ich Kyles Gesicht und seine kleinen Hände, hörte wieder seine glockenreine Stimme. Ich fragte mich, ob ich jemals Mutter werden würde und was für eine »schreckliche Situation« das wohl war, in der sich Kyles Mutter befand, wo sein Vater wohl sein mochte und wo meiner war. Was tut er jetzt gerade?, hatte ich mich im Lauf meines Lebens immer mal wieder gefragt, aber ich hatte es mir nie vorstellen können. Ich wusste nicht, wie mein Vater lebte. Er war da, aber er war unsichtbar, ein Schattenwesen im Wald. Ein Feuer, so weit weg, dass nur Rauch zu sehen war.
Das war mein Vater: der Mann, der mir kein Vater gewesen war. Das verwunderte mich jedes Mal. Immer wieder aufs Neue. Dass er mich nicht so lieben konnte, wie er es hätte tun sollen, war für mich von allen Verrücktheiten dieser Welt immer die verrückteste gewesen. Doch als ich an diesem Abend, meinem fünfzigsten auf dem Trail, in das sich verdunkelnde Land hinausblickte, kam mir der Gedanke, dass ich mich nicht mehr über ihn zu wundern brauchte.
Es gab so viele andere wunderliche Dinge auf der Welt.
Diese Erkenntnis durchströmte mich wie ein Fluss. Es war, als wüsste ich nicht, dass ich atmen konnte, und atmete dann doch. Ich lachte vor Freude darüber, und im nächsten Augenblick weinte ich meine ersten Tränen auf dem PCT. Ich weinte und weinte und weinte. Ich weinte nicht vor Glück. Ich weinte, weil ich traurig war. Ich weinte nicht um meine Mutter, um meinen Vater oder um Paul. Ich weinte, weil ich überfloss. Weil ich überfloss von diesen fünfzig schweren Tagen auf dem Trail und den 9760 Tagen, die ihnen vorausgegangen waren.
Ich trat über eine Schwelle. Kalifornien wehte wie ein langer Schleier hinter mir. Ich fühlte mich nicht mehr wie eine lächerliche Versagerin. Und ich fühlte mich auch nicht wie eine taffe Amazonenkönigin. Ich spürte eine Wildheit, eine Demut und ein Gefühl der Geborgenheit in mir, als wäre auch ich nun sicher auf dieser Welt.
Teil Fünf –
Eine Kiste
voller Regen
Ich gehe langsam,
aber ich gehe nie zurück.
ABRAHAM LINCOLN
Sage mir, was hast du vor mit deinem einen,
wilden, kostbaren Leben?
MARY OLIVER »The Summer Day«
15 –
Eine Kiste voller Regen
In meiner zweitletzten Nacht in Kalifornien erwachte ich vom Geräusch des Windes, der die Äste der Bäume peitschte, und vom Trommeln des Regens auf meinem Zelt. Den ganzen Sommer war es so trocken gewesen, dass ich irgendwann aufgehört hatte, das Außenzelt aufzubauen, sodass ich beim Schlafen nur ein Moskitonetz zwischen mir und dem Himmel hatte. Ich krabbelte barfuß in die Dunkelheit hinaus und spannte das Außenzelt. Ich fröstelte, obwohl es früher August war. Wochenlang hatte es weit über dreißig Grad, manchmal bis vierzig Grad gehabt, nun aber hatte das Wetter umgeschlagen und Wind und Regen gebracht. Wieder in meinem Zelt, schlüpfte ich in die Fleece-Leggins und den Anorak, kroch in den Schlafsack, zog den Reißverschluss bis zum Kinn und schlang mir die Kapuze fest um den Kopf. Als ich um sechs wieder aufwachte, zeigte das kleine Thermometer am Rucksack knapp drei Grad.
Ich wanderte im Regen auf einer Kammlinie entlang, fast meinen gesamten Kleidervorrat am Leib. Jedes Mal, wenn ich länger als ein paar Minuten stehen blieb, wurde mir so kalt, dass ich mit den Zähnen klapperte, bis ich weiterging und wieder zu schwitzen begann. An klaren Tagen, so behauptete mein Führer, sei im Norden schon Oregon zu sehen, aber ich sah nur dichten Nebel, der alles verschluckte, was weiter als zehn Schritte von mir entfernt war. Ich brauchte Oregon nicht zu sehen. Ich konnte es spüren, riesig vor mir. Ich würde es in seiner ganzen Länge durchwandern, falls ich bis zu der Brücke der Götter durchhielt. Wer würde ich sein, wenn es mir gelang? Wer würde ich sein, wenn es mir nicht gelang?
Mitten am Vormittag tauchte Stacy aus dem Nebel auf, südwärts marschierend. Wir waren am Vortag zusammen in Seiad Valley losgewandert, nachdem wir mit Rex und den Paaren zusammen genächtigt hatten. Am Morgen war Rex mit einem Bus in sein normales Leben zurückgekehrt, während wir anderen weitergewandert waren und uns nach ein paar Stunden getrennt hatten. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Paare auf dem Trail nicht wiedersehen würde, aber mit Stacy hatte ich vereinbart, uns oben in Ashland zu
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