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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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müsste wirklich eins da sein.«
    Die Frau schüttelte nur teilnahmslos den Kopf. Ich war ihr völlig schnuppe. Ich war schmutzig und roch nach einem jugendlichen Aussteiger. »Der Nächste«, sagte sie und winkte dem Mann am Kopf der Schlange.
    Ich taumelte ins Freie, halb blind vor Wut und Panik. Ich war in Ashland, Oregon, und besaß nur 2,29 Dollar. Ich brauchte Geld für die Jugendherberge. Ich brauchte Proviant, bevor ich weiterwandern konnte. Aber mehr als alles andere – nachdem ich sechzig Tage mit Rucksack marschiert war, mich von Trockenkost ernährt hatte, die nach aufgewärmter Pappe schmeckte, und manchmal wochenlang bei den unterschiedlichsten Temperaturen Berge rauf und runter gekraxelt war, ohne einen Menschen zu treffen – brauchte ich etwas Entspannung. Nur ein paar Tage. Bitte.
    Ich suchte mir eine Telefonzelle, setzte das Monster ab, ging hinein und schloss die Tür hinter mir. Es war ein unglaublich gutes Gefühl, irgendwo drin zu sein, und am liebsten hätte ich diesen kleinen gläsernen Raum nie wieder verlassen. Ich betrachtete den wattierten Umschlag. Er war von meiner Freundin Laura aus Minneapolis. Ich riss ihn auf und zog den Inhalt heraus: einen Brief, der um eine Halskette gefaltet war, die sie mir aus Anlass meiner Namensänderung gefertigt hatte. Eine Gliederkette mit dem Schriftzug STRAYED. Auf den ersten Blick lasen sich die klotzigen silbernen Buchstaben wie STARVED – »ausgehungert« –, weil das Y etwas anders war als die anderen Buchstaben, dicker und gedrungener, und weil mein Verstand die Buchstaben zu einem vertrauten Wort zusammenfügte. Ich legte die Kette um und betrachtete mein verzerrtes Spiegelbild in der glänzenden Metallfront des Telefonapparats. Sie hing unter der, die ich seit Kennedy Meadows trug, der mit dem Türkis-Ohrstecker, der einmal meiner Mutter gehört hatte.
    Ich nahm den Hörer ab und meldete ein R-Gespräch mit Lisa an, um mich nach meinem Paket zu erkundigen, aber sie ging nicht ran.
    Ich streifte deprimiert durch die Straßen und versuchte, nicht ans Mittagessen zu denken, aber meine Blicke wanderten immer wieder sehnsüchtig zu den Muffins und anderen Leckereien, die mich aus den Schaufenstern anlachten, oder zu den Lattes in Pappbechern, die Touristen in ihren makellos sauberen Händen hielten. Ich ging zur Jugendherberge, um nachzusehen, ob Stacy da war. Sie war am Vorabend eingetroffen, im Moment aber nicht da, wie mir der Mann am Empfang mitteilte, wollte jedoch später wiederkommen. »Möchten Sie auch einchecken?«, fragte er mich, aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich ging zu der Naturkost-Kooperative, vor der die alternativen Jugendlichen eine Art Tageslager aufgeschlagen hatten und den Rasen und die Gehwege vor dem Laden belagerten. Kaum dort, entdeckte ich wieder einen der Typen, die ich oben am Toad Lake getroffen hatte – den Stirnbandträger und Anführer der Clique, der wie Jimi Hendrix jeden Baby nannte. Er saß auf dem Gehweg neben dem Eingang, in der Hand ein Stück Pappkarton, auf das mit Kugelschreiber die Bitte um eine kleine Geldspende gekritzelt war, vor sich eine leere Kaffeedose mit ein paar Münzen darin.
    »Hey«, sagte ich und blieb vor ihm stehen, erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen, auch wenn es nur seines war. Er trug immer noch das seltsam schmuddelige Stirnband.
    »Hallo«, antwortete er, schien sich aber nicht an mich zu erinnern. Er schnorrte mich nicht an. Offensichtlich war mir anzusehen, dass ich kein Geld hatte. »Reist du herum?«, fragte er.
    »Ich wandere auf dem Pacific Crest Trail«, antwortete ich, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.
    Er nickte, aber es machte noch immer nicht klick. »Heute kommen viele Leute von außerhalb zur Dead-Fete.«
    »Es gibt eine Fete?«, fragte ich.
    »Heute Nacht ist einiges los.«
    Ich fragte mich, ob er, wie angekündigt, ein Mini-Rainbow-Gathering am Crater Lake organisiert hatte, war aber nicht neugierig genug, um ihn darauf anzusprechen. »Mach’s gut«, sagte ich und ging weiter.
    Ich betrat den Laden. Die klimatisierte Luft fühlte sich komisch an meinen nackten Armen und Beinen an. Bei meinen Versorgungsstopps auf dem Trail hatte ich einige Gemischtwarenläden und auf Touristen ausgerichtete Mini-Märkte aufgesucht, aber in einem solchen Geschäft war ich noch nicht gewesen. Ich wanderte durch die Gänge und sah mir Sachen an, die ich mir nicht leisten konnte, wie betäubt von ihrer Fülle. Wie hatte ich ein solches Angebot jemals für

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