Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
die Kammer zurück und zog meine Stiefel an. Sie waren nicht mehr neu. Sie waren schmutzig, warm und schwer, und sie verursachten mir Schmerzen. Aber sie waren die einzigen Schuhe, die ich hatte.
Beim Abendessen mit Stacy und Dee bestellte ich alles, worauf ich Appetit hatte. Hinterher ging ich in einen Schuhladen und kaufte mir blauschwarze Sportsandalen von Merrell, was ich schon vor Beginn der Reise hätte tun sollen. Wir kehrten in die Jugendherberge zurück. Dee wollte früh schlafen gehen, aber Stacy und ich waren Minuten später wieder draußen und auf dem Weg zu der Jerry-Garcia-Gedenkfeier in einem nahen Club. Dort angekommen, setzten wir uns an einen Tisch in einem kleinen, mit einem Seil abgetrennten Bereich neben der Tanzfläche, tranken Weißwein, lauschten den Stücken von Grateful Dead, die ununterbrochen liefen, und sahen den Leuten beim Tanzen zu, hauptsächlich Frauen jedes Alters, jeder Größe und Figur, unter die sich nur vereinzelt ein Mann mischte. Hinter der Tanzfläche hing eine Leinwand, auf die Bilder projiziert wurden, darunter abstrakte, psychedelische Farborgien sowie Zeichnungen, die Jerry und seine Band darstellten.
»Wir lieben dich, Jerry!«, rief eine Frau am Nebentisch laut, als ein Bild von ihm erschien.
»Möchtest du tanzen?«, fragte ich Stacy.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss zurück in die Jugendherberge. Wir ziehen morgen in aller Frühe los.«
»Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen«, sagte ich. »Weck mich, falls ich morgen früh noch schlafen sollte, damit ich mich verabschieden kann.« Nachdem sie gegangen war, bestellte ich mir noch ein Glas Wein, hörte der Musik zu, beobachtete die Leute und fühlte mich einfach nur glücklich, an einem Sommerabend mit anderen Menschen zusammen in einem Raum sitzen zu können, in dem Musik lief. Als ich eine halbe Stunde später aufstand, um zu gehen, erklangen die ersten Töne des Stücks »Box of Rain«. Das war einer meiner Lieblingssongs der Dead, und leicht beschwipst, wie ich war, stürmte ich spontan auf die Tanzfläche und begann zu tanzen, bereute es aber schon im nächsten Moment. Vom vielen Wandern war ich merkwürdig steif in den Knien und Hüften, doch gerade als ich endgültig gehen wollte, tauchte plötzlich der Typ aus Michigan, den ich am Nachmittag kennengelernt hatte, vor mir auf, wirbelte um mich herum wie ein kreiselnder Hippie, als tanzten wir zusammen, zeichnete mit den Händen einen imaginären Kasten in die Luft und nickte mir dabei zu, als wüsste ich, was das zu bedeuten hatte, und so blieb ich, um nicht unhöflich zu erscheinen.
»Ich muss immer an Oregon denken, wenn ich das Stück höre«, brüllte er gegen die Musik an, während ich linkisch meinen Körper bewegte. »Verstehst du?«, fragte er. » Box of rai n ? Auch Oregon ist eine Kiste voller Regen.«
Ich nickte und lachte und tat so, als fände ich das lustig, aber kaum war das Stück zu Ende, flüchtete ich und stellte mich an eine niedrige Mauer, die an der Bar entlanglief.
»Hey«, sagte nach einer Weile eine Stimme zu mir, und ich drehte mich um. Auf der anderen Seite der hüfthohen Mauer stand ein Mann mit einem Filzstift und einer Taschenlampe in der Hand. Er war mir noch gar nicht aufgefallen. Offensichtlich arbeitete er hier und bediente in diesem Bereich, in dem ich jetzt stand.
»Hey«, grüßte ich zurück. Er sah gut aus, war ein bisschen älter als ich und hatte lange, dunkel gelockte Haare, die ihm bis zu den Schultern reichten. WILCO stand vorn auf seinem T-Shirt. »Tolle Band«, sagte ich und deutete auf sein Shirt.
»Du kennst sie?«, fragte er.
»Klar kenn ich sie.«
Ein Lächeln legte Falten um seine braunen Augen. »Stark«, sagte er und drückte mir die Hand. »Ich heiße Jonathan.« Die Musik setzte wieder ein, bevor ich ihm meinen Namen nennen konnte, aber er beugte sich zu meinem Ohr vor und fragte mich dezent brüllend, wo ich herkäme. Anscheinend sah er mir an, dass ich nicht von hier war. Ebenfalls brüllend klärte ich ihn so kurz und knapp wie möglich über den PCT auf, und dann lehnte er sich wieder vor und schrie einen langen Satz in mein Ohr, den ich wegen der Musik nicht verstand, was mir aber egal war, denn wie seine Lippen mein Haar streiften und sein Atem meinen Hals kitzelte, war so herrlich, dass es mir durch und durch ging.
»Was?«, schrie ich zurück, als er fertig war, und so wiederholte er seinen Satz, nur diesmal lauter und langsamer, und ich verstand: Heute Nacht müsse er lange
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