Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
war, darin blätterte, beruhigte es mich weniger als erhofft. Mir fiel nämlich auf, dass ich gewisse Dinge übersehen hatte, wie zum Beispiel auf Seite 6 ein Zitat von einem Mann namens Charles Long, das die volle Zustimmung der Autoren fand und folgendermaßen lautete: »Wie kann ein Buch die psychologischen Faktoren beschreiben, auf die man sich einstellen muss … die Verzweiflung, den Überdruss, die Angst und insbesondere die Schmerzen, körperliche wie seelische, die den Willen des Wanderers untergraben? Diese Faktoren sind es, auf die man sich in erster Linie vorbereiten muss, und doch lassen sie sich mit Worten nicht vermitteln …«
Ich saß völlig fertig da, als mir schlagartig klar wurde, dass sich diese Faktoren tatsächlich nicht mit Worten vermitteln ließen. Doch andererseits war das auch gar nicht nötig. Ich kannte sie jetzt genau. Ich hatte mit einem Rucksack, der einem VW Käfer ähnelte, nur fünf Kilometer durch das Wüstengebirge wandern müssen, um sie kennenzulernen. Ich las weiter, stieß auf Ratschläge, vor Antritt der Tour seine körperliche Fitness zu verbessern und eigens für die Wanderung zu trainieren. Und, natürlich, auf Warnungen vor zu schweren Rucksäcken. Sogar auf den Vorschlag, nicht den kompletten Führer mitzuschleppen, da er viel zu schwer sei und im Übrigen auch gar nicht gebraucht werde – man könne ja Teile fotokopieren oder herausreißen und den benötigten Abschnitt jeweils dem nächsten Versorgungspaket beilegen. Ich klappte das Buch zu.
Warum war ich nicht selbst darauf gekommen, den Reiseführer in einzelne Teile zu zerreißen?
Weil ich komplett bescheuert war und nicht wusste, was ich tat, deswegen. Und weil ich erst ein Wahnsinnsgewicht durch die Wildnis schleppen musste, um auf den Trichter zu kommen.
Ich schlang die Arme um meine Beine, presste das Gesicht gegen meine nackten Knie und schloss, so zu einer Kugel zusammengerollt, die Augen, während der Wind wie wild meine schulterlangen Haare peitschte.
Als ich mehrere Minuten später die Augen wieder öffnete, bemerkte ich, dass ich neben einer Pflanze saß, die ich kannte. Salbei. Dieser hier war zwar nicht so grün wie der, den meine Mutter jahrelang in unserem Garten gezogen hatte, aber Gestalt und Geruch waren identisch. Ich rupfte ein paar Blätter ab und zerrieb sie zwischen den Handflächen, dann barg ich das Gesicht in die Hände und atmete tief ein, so wie es mir meine Mutter beigebracht hatte. Das gibt einem einen Energieschub, hatte sie immer gesagt und an jenen langen Tagen, an denen wir an unserem Haus bauten, meine Geschwister und mich beschworen, ihren Rat zu befolgen, wenn wir uns körperlich und geistig schlapp fühlten.
Als ich jetzt inhalierte, roch ich den scharfen, erdigen Geruch des Wüstensalbeis, aber viel stärker war die Erinnerung an meine Mutter. Ich hob den Blick zu dem blauen Himmel und spürte tatsächlich einen Energieschub, vor allem aber spürte ich die Gegenwart meiner Mutter, erinnerte mich wieder daran, warum ich mir diese Wanderung auf dem Trail zugetraut hatte. Aus all den Gründen, die mich davon überzeugt hatten, dass ich auf dieser Wanderung keine Angst zu haben brauchte, aus all den Gründen, die ich mir eingeredet hatte, damit ich sie machen konnte, ragte einer heraus: der Tod meiner Mutter. Ervor allem gab mir die Gewissheit, dass ich nichts zu befürchten hatte. Denn was sollte mir noch zustoßen? Das Schlimmste hatte ich ja bereits hinter mir.
Ich stand auf, ließ mir vom Wind die Salbeiblätter aus den Händen wehen und ging zum Rand des Flachstücks, auf dem ich mich befand. Das Land dahinter ging weiter unten in eine Felszunge über. Ich konnte die Berge sehen, die mich kilometerweit umgaben und sanft in ein weites Wüstental ausliefen. In der Ferne reihten sich weiße Windräder auf den Höhen. Laut meinem Führer erzeugten sie Elektrizität für die Bewohner der Städte und Ortschaften da unten, aber das alles war für mich jetzt weit weg. Die Städte und Ortschaften. Elektrizität. Sogar Kalifornien, wie es schien, obwohl ich mittendrin war, im echten Kalifornien mit seinem unablässigen Wind, seinen Joshuabäumen und seinen Klapperschlangen, die an Stellen lauerten, die ich noch ausfindig machen musste.
Wie ich so dastand, wurde mir klar, dass ich für heute genug hatte, obwohl ich nach der Rast eigentlich hatte weiterwandern wollen. Zu müde, um meinen Kocher anzuwerfen, und überhaupt zu erschöpft, um etwas zu essen, schlug ich das Zelt auf,
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