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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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ich einundzwanzig Kilometer von meiner ersten Wasseraufnahmestelle entfernt: Golden Oak Springs, die ich trotz meiner schwachen Vorstellung am gestrigen Tag bis zum Abend zu erreichen erwartete.
    Ich packte meinen Rucksack auf dieselbe Weise, wie ich es im Motel getan hatte. Ich stopfte und drückte meine Sachen hinein, bis nichts mehr hineinpasste, und zurrte den Rest mit Spanngummis außen fest. Ich brauchte eine Stunde, um das Lager abzubrechen und loszumarschieren. Fast augenblicklich stieß ich auf einen kleinen Kothaufen, ein paar Meter von der Stelle entfernt, wo ich geschlafen hatte. Er war schwarz wie Teer. Ein Kojote, hoffte ich. Oder vielleicht ein Puma? Ich suchte auf der Erde nach Spuren, fand aber keine. Ich ließ den Blick über die Umgebung wandern, darauf gefasst, zwischen den Salbeisträuchern und Felsen ein großes Katzengesicht zu entdecken.
    Ich ging weiter. Gegenüber dem Vortag kam ich mir schon erfahrener vor, war trotz des Kothaufens nicht mehr ganz so vorsichtig bei jedem Schritt und fühlte mich unter dem Rucksack stärker. Dieses Gefühl der Stärke war innerhalb einer Viertelstunde dahin, denn der Pfad führte immer steiler nach oben und Serpentine um Serpentine in die felsigen Berge hinein. Der Rucksackrahmen ächzte hinter mir bei jedem Schritt unter seiner Last. Meine Nacken- und Schultermuskeln zogen sich zu brennenden Knoten zusammen. Von Zeit zu Zeit blieb ich stehen, beugte mich vor und stützte die Hände auf die Knie, um meine Schultern für einen Augenblick vom Gewicht des Rucksacks zu entlasten, ehe ich weiterwankte.
    Gegen Mittag war ich auf über 1800 Meter Höhe. Die Luft hatte merklich abgekühlt, und dann verschwand auch noch die Sonne hinter Wolken. Gestern war es in der Wüste heiß gewesen, aber jetzt fröstelte ich, und das durchgeschwitzte T-Shirt klebte mir kalt am Rücken, als ich das Mittagessen, bestehend aus einem Eiweißriegel und Dörraprikosen, zu mir nahm. Ich holte die Fleecejacke aus dem Kleidersack und zog sie an. Danach legte ich mich auf meine Plane, um ein paar Minuten auszuruhen, und schlief, ohne es zu wollen, ein.
    Ich erwachte, als mir Regentropfen ins Gesicht fielen, und blickte auf meine Armbanduhr. Ich hatte fast zwei Stunden geschlafen. Ich hatte nichts geträumt, hatte überhaupt nicht gemerkt, wie ich eingeschlafen war, als hätte sich jemand von hinten an mich angeschlichen und mich mit einem Stein bewusstlos geschlagen. Als ich mich aufsetzte, bemerkte ich, dass ich in eine Wolke gehüllt war. Es war so diesig, dass ich nur wenige Schritte weit sehen konnte. Ich schnallte den Rucksack um und wanderte weiter. Es nieselte leicht, aber bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, durch tiefes Wasser zu waten. An den Stellen an Hüfte, Rücken und Schultern, wo ich vom Rucksack wund gescheuert war, raffte ich mein T-Shirt und meine Shorts zusammen, aber das machte es nur noch schlimmer.
    Ich wanderte bis zum späten Nachmittag und in den Abend hinein, obwohl die Sicht nicht besser wurde. Ich dachte nicht mehr an Schlangen wie noch am Vortag. Ich dachte nicht: Ich wandere auf dem Pacific Crest Trail . Ich dachte nicht einmal: Worauf habe ich mich da eingelassen? Ich dachte nur daran, irgendwie in Bewegung zu bleiben. Mein Kopf war eine Kristallvase, die nur diesen einen Wunsch enthielt. Mein Körper war das Gegenteil: ein Sack voller Glasscherben. Bei jeder Bewegung tat er weh. Ich zählte meine Schritte, um mich von den Schmerzen abzulenken, leierte in meinem Kopf stumm die Zahlen von eins bis hundert herunter und fing dann wieder von vorn an. Das machte das Gehen etwas erträglicher, als müsste ich jedes Mal nur bis zum Ende des Zahlenblocks gehen.
    Während ich immer höher stieg, begriff ich, dass ich keine Ahnung hatte, was ein Berg war oder ob ich nur einen Berg oder mehrere zusammenhängende erklomm. Ich war nicht in den Bergen aufgewachsen. Ich war ein paar hinaufgewandert, aber nur auf ausgetretenen Pfaden und an einem Tag. Sie waren für mich nur richtig große Hügel gewesen, mehr nicht. Aber das waren sie nicht, wie ich jetzt begriff. Sie waren vielschichtig und komplex, unerklärlich und mit nichts vergleichbar. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich hätte den Gipfel des Bergs oder der zusammenhängenden Berge erreicht, täuschte ich mich. Es ging immer noch weiter bergauf, selbst wenn zuerst ein kleiner Hang folgte, der trügerisch bergab führte. So stieg ich immer höher, bis ich irgendwann tatsächlich den Gipfel erreichte. Ich wusste es,

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