Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
könnte, dann, ob er das Telefon in meiner Wohnung benutzen könnte, und dann, ob ich ihm einen Fünfdollarschein wechseln könnte und so weiter und so fort. Seine verdrehten Fragen und traurigen Geschichten verwirrten mich so, dass ich schließlich aufstand und die letzten zehn Dollar, die ich besaß, aus der Tasche meiner Jeans fischte.
Beim Anblick des Geldes zog er ein Messer unter dem Hemd hervor, hielt es mir beinahe höflich an die Brust und zischte: »Her mit der Kohle, Süße.«
Ich packte meine wenigen Habseligkeiten zusammen, schrieb Joe einen Brief, klebte ihn an den Badezimmerspiegel und rief Paul an. Er hielt unten an der Ecke, und ich stieg zu ihm in den Wagen.
Auf der Fahrt quer durchs Land hatte ich das Gefühl, mein wirkliches Leben wäre hier bei mir, aber unerreichbar. Paul und ich stritten, brüllten und tobten, dass das Auto wackelte. Wir waren abscheulich und grausam zueinander und wurden hinterher wieder ganz friedlich, jeder schockiert über sich selbst und den anderen. Wir beschlossen, uns scheiden zu lassen, und dann, es doch nicht zu tun. Ich hasste ihn, und ich liebte ihn. Wenn ich mit ihm zusammen war, fühlte ich mich in der Falle, gebrandmarkt, gehalten, geliebt. Wie eine Tochter.
»Ich habe dich nicht gebeten, herzukommen und mich zu holen«, schrie ich im Verlauf des Streits. »Du bist nur deinetwegen gekommen. Damit du den Helden spielen kannst.«
»Vielleicht«, sagte er.
»Warum sonst bist du den weiten Weg gefahren, um mich zu holen?«, fragte ich schnaubend.
»Einfach so«, sagte er, hielt das Lenkrad umklammert und starrte durch die Windschutzscheibe in die sternenklare Nacht hinaus. »Einfach so.«
Ich sah Joe mehrere Wochen später wieder, als er mich in Minneapolis besuchte. Wir waren kein Paar mehr, aber wir machten sofort da weiter, wo wir aufgehört hatten – nahmen in der Woche, die er da war, jeden Tag Heroin, schliefen ein paarmal miteinander. Doch als er wieder abfuhr, war ich mit ihm fertig. Und mit dem Heroin. Ich hatte nicht mehr daran gedacht, bis ich mit Aimee in dem mexikanischen Restaurant in Sioux Falls saß und dieses seltsame Gefühl hatte, als ob mich die scharfen Ränder unzerkauter Tortilla-Chips in den Magen zwickten.
Wir verließen das Restaurant und fuhren zu einem riesigen Supermarkt, um einen Schwangerschaftstest zu kaufen. Beim Gang durch den hell erleuchteten Laden kam ich im Stillen zu dem Schluss, dass ich wahrscheinlich nicht schwanger war. Ich war so oft gerade noch mal so davongekommen – hatte mir unnötig Sorgen gemacht und mich hinterher geärgert, weil ich mir so überzeugend Schwangerschaftszeichen eingebildet hatte, dass ich jedes Mal verblüfft war, als ich dann doch meine Periode bekam. Aber inzwischen war ich sechsundzwanzig und hatte einiges an Erfahrung hinter mir. Ich wollte mir nicht noch einmal einen Schrecken einjagen lassen.
Zurück im Motel, schloss ich die Badezimmertür hinter mir und pinkelte auf das Teststäbchen, während Aimee draußen auf dem Bett saß. Innerhalb von Sekunden erschienen zwei dunkelblaue Linien in dem kleinen Testfenster.
»Ich bin schwanger«, sagte ich mit Tränen in den Augen, als ich herauskam. Aimee und ich legten uns aufs Bett und redeten eine Stunde lang, obwohl es nicht viel zu sagen gab. Dass ich abtreiben würde, stand so außer Frage, dass es albern erschien, über etwas anderes zu reden.
Für die Fahrt von Sioux Falls nach Minneapolis braucht man vier Stunden. Aimee fuhr am nächsten Morgen in ihrem Wagen hinter mir her für den Fall, dass der Pick-up wieder liegen blieb. Ich hörte beim Fahren kein Radio, sondern dachte über meine Schwangerschaft nach. Es war nur so groß wie ein Reiskorn, und dennoch konnte ich es im tiefsten, stärksten Teil von mir spüren. Es demoralisierte mich, rüttelte mich wach, ging mir durch und durch. Irgendwo im landwirtschaftlich geprägten Südwesten Minnesotas brach ich in Tränen aus und musste so heftig weinen, dass ich kaum noch lenken konnte, und das nicht nur, weil ich ungewollt schwanger war. Ich weinte, weil ich seit dem Tod meiner Mutter mein Leben in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte. Weil ich ein stumpfsinniges Dasein führte. So durfte ich nicht sein, so durfte ich nicht leben, so kläglich durfte ich nicht scheitern.
In diesem Augenblick erinnerte ich mich an diesen Wanderführer, den ich ein paar Tage zuvor im REI aus dem Regal gezogen hatte, als ich mit dem Klappspaten an der Kasse anstand. Der Gedanke an das Foto auf dem
Weitere Kostenlose Bücher