Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
obwohl es erst vier Uhr am Nachmittag war. Ich holte meine Sachen aus dem Rucksack und warf sie ins Zelt, damit der Wind sie nicht fortblies, dann schob ich den Rucksack hinein und kroch hinterher. Drinnen fühlte ich mich sofort erleichtert, obwohl dieses Drinnen nur eine enge grüne Nylonhöhle war. Ich baute meinen kleinen Campingstuhl auf und setzte mich in den schmalen Eingang, der so hoch war, dass ich nicht mit dem Kopf oben anstieß. Dann wühlte ich in meinen Sachen nach einem Buch. Nicht nach The Pacific Crest Trail, Volume I: California, in dem ich hätte lesen sollen, um zu erfahren, was mich am nächsten Tag erwartete, und auch nicht nach Staying Found, das ich vor Beginn der Wanderung hätte studieren sollen, sondern nach dem Gedichtband von Adrienne Rich mit dem Titel Der Traum einer gemeinsamen Sprache.
Das Buch stellte ein zusätzliches Gewicht dar, das eigentlich nicht zu rechtfertigen war. Ich sah die missbilligenden Mienen der Autoren von The Pacific Crest Trail, Volume I: California förmlich vor mir. Selbst der Faulkner-Roman hatte in meinem Rucksack mehr Existenzberechtigung, wenn auch nur, weil ich ihn noch nicht gelesen hatte und er daher aus Gründen der Unterhaltung durchgehen konnte. Doch Adrienne Richs Buch hatte ich so oft gelesen, dass ich es praktisch auswendig kannte. Bestimmte Verse darin waren für mich zu Beschwörungsformeln geworden, die ich in meiner Trauer und Ratlosigkeit vor mich hin sagte. Das Buch war mir ein Trost, ein alter Freund, und als ich es an meinem ersten Abend auf dem Trail in den Händen hielt, bedauerte ich kein bisschen, dass ich es tragen musste – obwohl ich auch so schon mehr als genug zu schleppen hatte. Es stimmte, dass The Pacific Crest Trail, Volume I: California jetzt meine Bibel war, aber Der Traum einer gemeinsamen Sprache war meine Religion.
Ich schlug es auf und las das erste Gedicht so laut, dass meine Stimme das Knattern der Zeltwände im Wind übertönte. Ich las es immer wieder und wieder.
Das Gedicht trug den Titel »Kraft«.
5 –
Spuren
Streng genommen bin ich fünfzehn Tage älter als der Pacific Crest Trail. Ich wurde am 17. September 1968 geboren, und der Trail wurde am 2. Oktober desselben Jahres durch ein Bundesgesetz offiziell ins Leben gerufen. Teile des Trails hatten schon lange davor existiert – seit den 1930er Jahren hatte eine Gruppe von Wanderern und Naturbegeisterten, die einen Fernwanderweg von Mexiko bis Kanada schaffen wollten, einzelne Abschnitte angelegt und miteinander verknüpft. Doch erst 1968 wurde der PCT zum nationalen Projekt erhoben und erst 1993 schließlich fertiggestellt. Die offizielle Einweihung erfolgte ziemlich genau zwei Jahre, bevor ich an meinem ersten Morgen zwischen den Joshuabäumen, die mich gepiekt hatten, aufwachte. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, dass der Trail erst zwei Jahre alt war. Ich hatte nicht einmal das Gefühl, dass er ungefähr in meinem Alter war. Er kam mir uralt vor. Wissend. Und mir gegenüber völlig gleichgültig.
Ich erwachte im Morgengrauen, aber ich konnte mich eine Stunde lang nicht dazu durchringen, mich aufzusetzen, blieb stattdessen in meinem Schlafsack und las in meinem Führer, immer noch müde, obwohl ich zwölf Stunden geschlafen hatte – zumindest hatte ich so lange gelegen. Im Lauf der Nacht hatte mich mehrmals der böige Wind geweckt, der so heftig am Zelt rüttelte, dass mir manchmal die Zeltwand gegen den Kopf schlug. Er legte sich in den Stunden vor Tagesanbruch, doch dann weckte mich etwas anderes: die Stille. Der unwiderlegbare Beweis dafür, dass ich hier draußen vollkommen allein war.
Ich kroch aus dem Zelt und richtete mich langsam auf. Meine Muskeln waren steif von der gestrigen Wanderung, der steinige Boden piekte mich in die nackten Füße. Ich verspürte noch immer keinen Hunger, zwang mich aber zu frühstücken, indem ich zwei Löffel Sojamilchpulver in einem Topf mit Wasser verrührte und Müslimischung dazugab. Das Pulver hieß »Better Than Milk«, aber für mich schmeckte es nicht besser als Milch. Oder schlechter. Es schmeckte nach gar nichts. Genauso gut hätte ich Gras essen können. Anscheinend waren meine Geschmacksnerven abgestorben. Ich löffelte trotzdem weiter. Ich musste etwas essen, denn ich hatte einen langen Tag vor mir. Ich trank den letzten Rest Wasser in meinen Flaschen und füllte sie am Wassersack, der schwer in meinen Händen zappelte, unbeholfen wieder auf. Laut The Pacific Crest Trail, Volume I: California war
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