Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
hatte. »Es ist eine Sache, wenn eine Frau so verrückt ist, so was zu tun. Aber eine ganz andere, wenn ein Mann seine Frau losziehen und so was tun lässt.«
»Ja«, sagte ich, als wäre ich seiner Meinung. »Na, jedenfalls sind wir in ein paar Tagen wieder vereint.« Ich sagte das mit so viel Überzeugung, dass ich selbst dran glaubte. Ich glaubte, dass Paul mir in diesem Augenblick entgegenkam. Dass wir nicht vor zwei Monaten an einem verschneiten Apriltag die Scheidung eingereicht hatten. Dass er mich holen kam. Oder dass er wissen würde, wenn ich auf dem Trail nicht mehr weiterkam. Dass mein Verschwinden innerhalb weniger Tage bemerkt werden würde.
Doch das Gegenteil stimmte. Die Menschen in meinem Leben waren wie die Pflaster, die der Wüstenwind am ersten Tag meiner Wanderung fortgeweht hatte. Sie stoben auseinander, und dann waren sie fort. Niemand erwartete von mir, dass ich anrief, wenn ich mein erstes Etappenziel erreicht hatte. Oder das zweite oder dritte.
Frank lehnte sich in seinem Sitz zurück und rückte seine große Gürtelschnalle zurecht. »Es gibt noch etwas, womit ich mich nach einem harten Arbeitstag gern belohne«, sagte er.
»Und das wäre?«, fragte ich mit einem zaghaften Lächeln und heftigem Herzklopfen. Ich spürte ein Prickeln in den Händen, die in meinem Schoß lagen. Mir war vollauf bewusst, dass mein Rucksack zu weit weg war, hinten auf der Ladefläche. Ich beschloss, ihn zurückzulassen, falls ich gezwungen war, die Tür aufzustoßen und wegzurennen.
Frank fasste unter den Sitz, wo die kleine schwarze Schachtel mit dem Revolver stand.
Er zog eine durchsichtige Plastiktüte hervor. Sie enthielt lange dünne rote Lakritzschlangen, die wie Lassos aufgerollt waren. Er hielt mir die Tüte hin und fragte: »Möchten Sie welche, Miss Jane?«
6 –
Ein Bulle in jeder Richtung
Während der Fahrt verschlang ich gut zwei Meter von Franks roter Lakritze und hätte wohl noch mal zwei Meter verschlungen, wenn sein Vorrat nicht erschöpft gewesen wäre.
»Warten Sie hier«, sagte er, als wir in der kleinen unbefestigten Zufahrt hielten, die an seinem Haus vorbeiführte – einem Mobilheim in einer kleinen Mobilheimsiedlung im Wüstenbuschland. »Ich gehe rein und sage Annette, wer Sie sind.«
Ein paar Minuten später kamen sie zusammen heraus. Annette, eine mollige Grauhaarige, musterte mich unfreundlich und argwöhnisch. »Mehr haben Sie nicht?«, raunzte sie, als Frank meinen Rucksack vom Laster zerrte. Ich folgte ihnen nach drinnen, wo Frank sofort im Badezimmer verschwand.
»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, sagte Annette, was ich so verstand, dass ich mich an den Esstisch neben der Kochnische setzen sollte, während sie mir einen Teller auflud. Ein kleines Fernsehgerät stand am anderen Tischende und plärrte so laut, dass kaum ein Wort zu verstehen war. Wieder ein Bericht über den Prozess gegen O. J. Simpson. Ich glotzte auf den Bildschirm, bis Annette kam, den Teller vor mich hinstellte und den Fernseher ausschaltete.
»Man hört nichts anderes mehr«, sagte sie. »O. J. hier, O. J. da. Man sollte nicht meinen, dass in Afrika Kinder verhungern. Nun fangen Sie schon an.« Sie deutete auf den Teller.
»Ich kann warten«, sagte ich in einem gleichgültigen Ton, der über meinen Heißhunger hinwegtäuschte. Ich starrte auf den Teller. Er war überhäuft mit gegrillten Spareribs, Mais aus der Dose und Kartoffelsalat. Ich überlegte, ob ich aufstehen und mir die Hände waschen sollte, aber das hätte die Sache nur hinausgezögert. Es war egal. Händewaschen vor dem Essen ja oder nein, die Frage war für mich so weit weg wie die Fernsehnachrichten.
»Essen Sie!«, befahl Annette und stellte einen Plastikbecher Kool-Aid mit Kirschgeschmack neben meinen Teller.
Ich schob mir eine Gabel voll Kartoffelsalat in den Mund. Er schmeckte so gut, dass ich fast vom Stuhl fiel.
»Gehen Sie aufs College?«
»Ja«, antwortete ich, seltsam geschmeichelt, dass sie mich so einschätzte, obwohl ich verdreckt war und stank. »Das heißt, ich ging. Ich habe vor vier Jahren meinen Abschluss gemacht.« Ich nahm noch einen Bissen, mir bewusst, dass das streng genommen gelogen war. Ich hatte meiner Mutter kurz vor ihrem Tod zwar versprochen, meinen Bachelor zu Ende zu machen, aber ich hatte es nie getan. Meine Mutter war an dem Montag gestorben, an dem die einwöchigen Frühjahrsferien begannen, und am Montag darauf war ich ans College zurückgekehrt. Halb blind vor Trauer hatte ich mich durch das
Weitere Kostenlose Bücher