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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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Glück«, sagte ich, als er davonradelte.
    Ich ging in ein Lebensmittelgeschäft und wanderte eine ganze Weile die Gänge auf und ab, ehe ich etwas anfasste, wie geblendet von den Bergen an Lebensmitteln. Ich kaufte ein paar Sachen als Ersatz für die Vorräte, die ich aufgezehrt hatte, weil ich nicht hatte kochen können, und ging dann an einer stark befahrenen Straße entlang, bis ich ein Motel fand, das wie das billigste in der Stadt aussah.
    »Ich heiße Bud«, sagte der Mann hinter dem Portierstisch, als ich nach einem Zimmer fragte. Er hatte einen Hundeblick und Raucherhusten. Braune Wangen hingen schlaff in seinem runzligen Gesicht. Als ich ihm von meiner Wanderung auf dem PCT erzählte, bestand er darauf, meine Kleider zu waschen. »Ich kann sie einfach mit der Bettwäsche und den Handtüchern in die Maschine stecken, Schätzchen«, sagte er, als ich protestierte. »Das macht überhaupt keine Umstände.«
    Ich ging in mein Zimmer, zog mich aus und schlüpfte in meine Regenhose und Regenjacke, obwohl es ein heißer Junitag war, dann kehrte ich zur Rezeption zurück, reichte Bud schüchtern mein kleines Wäschebündel und dankte ihm noch einmal.
    »Mir gefällt nämlich Ihr Armband«, sagte er, »deshalb habe ich es Ihnen angeboten.« Ich schob den Ärmel meiner Regenjacke hoch, und wir sahen es uns an. Es war eins von diesen POW/MIA-Armbändern, mit denen an gefallene oder vermisste Vietnam-Soldaten erinnert wurde. Meine Freundin Aimee hatte es mir umgelegt, als wir uns vor Wochen auf einer Straße in Minneapolis voneinander verabschiedeten.
    »Lassen Sie mich sehen, wem es gewidmet ist.« Er fasste über den Tisch, ergriff mein Handgelenk und drehte es so, dass er die Gravur lesen konnte. »William J. Crockett«, sagte er und ließ mich wieder los. Aimee hatte Nachforschungen angestellt und mir erzählt, wer William J. Crockett war: ein Air-Force-Pilot, der zwei Monate vor seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag mit seiner Maschine über Vietnam abgeschossen worden war. Sie hatte das Armband jahrelang getragen, ohne es ein einziges Mal abzunehmen. Auch ich hatte es nicht abgenommen, seit sie es mir geschenkt hatte. »Ich bin selbst Vietnam-Veteran, darum achte ich auf solche Dinge«, sagte Bud. »Und darum habe ich Ihnen auch das einzige Zimmer mit Badewanne gegeben. Ich war ’65 drüben, mit knapp achtzehn. Aber heute bin ich gegen Krieg. Gegen jede Form von Krieg. Hundert Prozent dagegen. Bis auf bestimmte Fälle.« In einem Aschenbecher aus Kunststoff glomm eine Zigarette. Bud klemmte sie zwischen die Finger, führte sie aber nicht an die Lippen. »Ich nehme an, Sie wissen, dass oben in der Sierra Nevada dieses Jahr eine Menge Schnee liegt.«
    »Schnee?«, fragte ich.
    »Es war ein Rekordjahr. Total eingeschneit. Hier in der Stadt gibt es ein Büro des Landverwaltungsamts, falls Sie dort anrufen und nach den Wetterverhältnissen fragen wollen«, sagte er und nahm einen Zug. »In ein oder zwei Stunden sind Ihre Kleider fertig.«
    Ich kehrte in mein Zimmer zurück, nahm eine Dusche und anschließend ein Bad. Hinterher schlug ich die Bettdecke zurück und legte mich auf das Laken. Das Zimmer hatte keine Klimaanlage, aber heiß war mir trotzdem nicht. Ich fühlte mich so gut wie noch nie in meinem Leben, jetzt, wo mich der Trail gelehrt hatte, wie miserabel ich mich fühlen konnte. Ich stand auf, fischte Faulkners Als ich im Sterben lag aus dem Rucksack, legte mich wieder hin und las , aber Buds Bemerkung über den Schnee ging mir nicht aus dem Kopf.
    Mit Schnee kannte ich mich aus. Schließlich war ich in Minnesota aufgewachsen. Ich hatte Schnee geschippt, war durch Schnee gefahren, hatte Schneeballschlachten geschlagen. Ich hatte tagelang durchs Fenster beobachtet, wie er in Mengen fiel, die monatelang liegen blieben. Aber der Schnee hier war anders. Er bedeckte die Sierra Nevada so hartnäckig, dass das Gebirge nach ihm benannt war – das spanische »Sierra Nevada« bedeutet »verschneiter Gebirgszug«.
    Es kam mir absurd vor, dass ich die ganze Zeit durch diesen verschneiten Gebirgszug gewandert sein sollte – dass die trockenen Berge, die ich überquert hatte, eigentlich zur Sierra Nevada gehörten. Aber sie gehörten eben nicht zu den High Sierras – jener eindrucksvollen Kette von Granitbergen hinter Kennedy Meadows, die der bekannte Naturforscher, Bergsteiger und Schriftsteller John Muir vor über hundert Jahren erkundet und lieben gelernt hatte. Ich hatte Muirs Bücher über die Sierra Nevada nicht

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