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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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komplette Unterrichtspensum des letzten Quartals gequält, aber das Abschlusszeugnis bekam ich trotzdem nicht, denn ich hatte in einem Punkt versagt: Ich hatte eine fünfseitige Hausarbeit für einen Englischkurs nicht geschrieben. Unter normalen Umständen wäre das für mich ein Kinderspiel gewesen, aber jedes Mal, wenn ich anfangen wollte, konnte ich nur auf den leeren Computerbildschirm starren. Bei der Abschlussfeier erklomm ich mit Hut und Talar die Bühne und nahm die kleine Zeugnisrolle in Empfang, die mir überreicht wurde, aber ich wusste, was darin stand: dass ich meinen Bachelor-Abschluss erst bekommen würde, wenn ich diese Hausarbeit abgab. Das einzig Handfeste, das mir blieb, war mein College-Darlehen, an dem ich nach meiner Berechnung bis zu meinem dreiundvierzigsten Lebensjahr abzuzahlen haben würde.
    Am nächsten Morgen setzte mich Frank an einem Gemischtwarenladen am Highway ab, verbunden mit dem Ratschlag, mir eine Fahrgelegenheit in einen Ort namens Ridgecrest zu besorgen. Ich setzte mich auf die Veranda vor dem Laden, bis ein Typ, der Tütenchips ausfuhr, vorbeikam und sich bereit erklärte, mich mitzunehmen, obwohl in seiner Firma das Mitnehmen von Trampern verboten war. Er stellte sich mir als Troy vor, als ich in seinen großen Laster geklettert war. Er fuhr an fünf Tagen in der Woche durch Südkalifornien und lieferte Chips aller Art aus. Er war seit siebzehn Jahren mit seiner großen Highschool-Liebe verheiratet, die er mit siebzehn geheiratet hatte.
    »Siebzehn Jahre im Käfig und siebzehn Jahre draußen«, witzelte er, aber seine Stimme klang wehmütig. »Ich würde alles darum geben, wenn ich mit Ihnen tauschen könnte«, sagte er beim Fahren. »Ich liebe meine Freiheit, aber ich hatte nie den Mumm, sie mir zu nehmen.«
    Er setzte mich an Todds Outdoor-Laden ab. Mr. Todd höchstpersönlich zerlegte und reinigte meinen Kocher, setzte einen neuen Filter ein, verkaufte mir das richtige Benzin und ließ mich sicherheitshalber den Kocher einmal zur Probe anzünden. Ich erstand außerdem Klebeband und Gelpads für meine Blessuren, ging anschließend in ein Restaurant und bestellte mir einen Schokomalz-Milchshake und einen Cheeseburger mit Pommes. Wie bei dem Festschmaus am Abend zuvor war jeder Bissen eine Wonne. Danach unternahm ich einen Spaziergang durch die Stadt. Autos zischten vorbei, und die Insassen verrenkten sich mit kühler Neugier die Hälse nach mir. Ich kam an Fast-Food-Buden und Autohäusern vorüber, unschlüssig, ob ich den Daumen raushalten oder ob ich in Ridgecrest übernachten und erst am nächsten Tag auf den PCT zurückkehren sollte. Irgendwann stand ich an einer Kreuzung und überlegte, in welche Richtung ich musste, als ein verwahrlost aussehender Mann auf einem Fahrrad daherkam. Er hielt eine zerknitterte Papiertüte in der Hand.
    »Willst du aus der Stadt raus?«, fragte er.
    »Vielleicht«, antwortete ich. Das Fahrrad – ein Jugendrad – war für ihn zu klein und an den Seiten mit einem knallbunten Flammenmuster bemalt.
    »In welche Richtung willst du?«, fragte er. Er stank so nach altem Schweiß, dass ich beinahe würgen musste, obwohl ich selbst wahrscheinlich nicht viel besser roch. Ich hatte gestern Abend nach dem Essen bei Frank und Annette zwar gebadet, trug aber noch meine schmutzigen Sachen.
    »Vielleicht übernachte ich in einem Motel«, sagte ich zu ihm.
    »Tu’s nicht!«, bellte er. »Mich haben sie deswegen ins Gefängnis gesteckt.«
    Ich nickte. Offensichtlich hielt er mich für seinesgleichen. Für eine Landstreicherin. Eine Aussteigerin. Nicht für ein sogenanntes College-Girl, nicht mal für ein ehemaliges. Ich versuchte gar nicht erst, ihm vom PCT zu erzählen.
    »Hier, kannst du haben«, sagte er und hielt mir die Tüte hin. »Da ist Brot und Fleischwurst drin. Damit kannst du dir Sandwiches machen.«
    »Nein, danke«, sagte ich, angewidert und gleichzeitig gerührt über sein Angebot.
    »Wo kommst du her?«, fragte er, nicht gewillt weiterzufahren.
    »Aus Minnesota.«
    »He!«, rief er, und ein breites Lächeln ging über sein schmutziges Gesicht. »Dann muss ich ja Schwester zu dir sagen. Ich bin aus Illinois. Illinois und Minnesota sind praktisch Nachbarn.«
    »Na ja, fast Nachbarn – wenn Wisconsin nicht dazwischen wäre«, sagte ich und bereute es sofort, denn ich wollte seine Gefühle nicht verletzen.
    »Aber trotzdem immer noch Nachbarn«, sagte er und hielt mir die offene Hand zum Abklatschen hin.
    Ich klatschte ihn ab.
    »Viel

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