Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
beschlossen, neben ihm saß. Vielleicht würde ich mich auch nach diesen schrecklichen Tagen später zurücksehnen.
»Woran denkst du?«, fragte er, aber ich antwortete nicht. Ich beugte mich nur vor und knipste das Licht an.
Paul und ich mussten die notariell beglaubigten Scheidungsunterlagen selbst abschicken. Wir traten zusammen aus dem Gebäude hinaus in den Schnee und gingen den Gehweg entlang, bis wir einen Briefkasten fanden. Danach lehnten wir uns gegen die kalte Backsteinmauer eines Hauses und küssten uns, weinten und beteuerten, wie leid es uns tue.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Paul nach einer Weile.
»Abschied nehmen«, antwortete ich. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu bitten, mit zu mir zu kommen, wie ich es während unserer einjährigen Trennung schon einige Male getan hatte, um dann mit ihm für eine Nacht oder einen Nachmittag ins Bett zu fallen, aber ich brachte es nicht über mich.
»Mach’s gut«, sagte er.
»Du auch«, sagte ich.
Ich stand dicht vor ihm, mein Gesicht an seinem, und hielt ihn vorn an seinem Mantel fest. Ich spürte die grausame Dumpfheit des Gebäudes auf der einen Seite, den grauen Himmel und die weißen Straßen wie ein schlummerndes großes Tier auf der anderen, und uns dazwischen, allein in einem Tunnel. Schneeflocken schmolzen in seinen Haaren, und ich hätte sie gern berührt, tat es aber nicht. Wir standen schweigend da und sahen einander in die Augen, als wäre es das letzte Mal.
»Cheryl Strayed«, sagte er nach einer ganzen Weile, und mein neuer Name klang sehr fremd aus seinem Mund.
Ich nickte und ließ seinen Mantel los.
7 –
Das einzige Mädchen in den Wäldern
»Cheryl Strayed?«, fragte die Frau im Gemischtwarenladen von Kennedy Meadows, ohne zu lächeln. Als ich energisch nickte, drehte sie sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort in einem Nebenraum.
Ich sah mich um, wie berauscht vom Anblick der verpackten Lebensmittel und Getränke. Ich konnte es kaum erwarten, mir in den kommenden Stunden einiges davon einzuverleiben, und ich genoss das Gefühl, den Rucksack los zu sein, der draußen auf der Veranda stand.
Ich war hier. Ich hatte mein erstes Etappenziel erreicht. Es kam mir vor wie ein Wunder. Irgendwie hatte ich erwartet, Greg, Matt und Albert im Laden zu treffen, aber sie waren nicht zu sehen. Nach Auskunft meines Wanderführers lag der Lagerplatz weitere fünf Kilometer von hier, und ich ging davon aus, dass ich sie dort finden würde, zusammen mit Doug und Tom. Da ich mich ins Zeug gelegt hatte, hatten die beiden es nicht geschafft, mich einzuholen.
Kennedy Meadows, das waren ausgedehnte Kiefernwälder und Salbeiwiesen in über 1900 Metern Höhe am South Fork Kern River. Dabei handelte es sich nicht um eine richtige Ortschaft, sondern eher um einen Außenposten der Zivilisation, der sich über mehrere Kilometer erstreckte und aus einem Gemischtwarenladen, einem Restaurant namens Grumpie’s und einem bescheidenen Campingplatz bestand.
»Bitte sehr«, sagte die Frau, als sie wiederkam und mein Paket auf die Ladentheke stellte. »Es ist das einzige, das an eine Frau adressiert ist. Deshalb wusste ich es.« Ihre Hand kam über die Theke. »Das da ist auch für Sie gekommen.«
Sie hielt mir eine Postkarte hin. Ich nahm sie und las. Ich hoffe, du hast es so weit geschafft, stand da in einer vertrauten Handschrift. Irgendwann möchte ich dein cleaner Freund sein. Ich liebe dich. Joe. Auf der anderen Seite war ein Foto des Sylvia Beach Hotel an der Küste von Oregon, in dem wir mal zusammen abgestiegen waren. Ich starrte eine Weile auf das Foto, und unterschiedliche Gefühle durchfluteten mich in Wellen: Dankbarkeit für eine Nachricht von jemandem, den ich kannte, Sehnsucht nach Joe, Enttäuschung, weil er der Einzige war, der mir geschrieben hatte, und, so unsinnig es auch war, Wehmut, weil es nicht Paul war, der mir als Einziger geschrieben hatte.
Ich kaufte zwei Flaschen Snapple-Limonade, einen Butterfinger-Riegel King Size und eine Tüte Doritos, ging nach draußen und setzte mich auf die Eingangstreppe, wo ich die Einkäufe verschlang und dabei immer wieder die Postkarte las. Nach einer Weile bemerkte ich in der Ecke der Veranda eine Kiste, die bis zum Rand vollgestopft war, hauptsächlich mit verpackter Backpacker-Kost. Darüber hing ein Schild, auf dem von Hand geschrieben stand:
Umsonstkiste für PCT-Wanderer!!!
Lass hier, was du nicht brauchst!
Nimm mit, was du willst!
Ein Skistock lehnte hinter der Kiste, genau so einer, wie
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