Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Cheryl Strayed ein, mit leicht zitternder Hand und einem Anflug von schlechtem Gewissen, als ob ich einen Scheck fälschte.
Zu dem Zeitpunkt, als Paul und ich beschlossen, die Scheidungsunterlagen auszufüllen, hatte ich mich an den neuen Namen schon so gewöhnt, dass ich ihn ohne Zögern in die leere Zeile eintrug. Zu denken gaben mir nur die anderen Zeilen, diese endlosen Zeilen, in denen wir mit unserer Unterschrift die Auflösung unserer Ehe besiegeln sollten. Die füllte ich weitaus zaghafter aus. Ich wollte mich von Paul scheiden lassen. Und doch auch wieder nicht. Ich war davon überzeugt, dass Scheidung der richtige Schritt war, und gleichzeitig war ich fast ebenso davon überzeugt, dass ich dadurch das Beste, was ich besaß, zerstörte. Ich tat damals genau das Gleiche wie später auf dem Trail, als ich begriff, dass in beiden Richtungen ein Bulle warten könnte: Ich machte einfach den Schritt ins Ungewisse und ging weiter, dorthin, wo ich noch nicht gewesen war.
Wir unterschrieben die Scheidungsunterlagen an einem Apriltag in Minneapolis. Es schneite, und die Flocken fielen in dichten Wirbeln und verzauberten die Stadt. Wir saßen an einem Tisch einer Frau namens Val gegenüber, einer zugelassenen Notarin, die wir zufällig kannten. Durch ein breites Fenster ihrer Kanzlei in der Stadt beobachteten wir den Schnee und machten Scherze, wenn es sich ergab. Ich hatte Val erst ein paarmal getroffen und wusste nur wenig über sie. Sie war nett, geradeheraus, unglaublich klein und mindestens zehn Jahre älter als wir. Ihr Haar war blond gefärbt und sehr kurz geschnitten bis auf eine längere, rosa Strähne, die ihr wie ein kleiner Flügel in die Augen fiel. Silberne Ohrstecker rahmten ihre Ohrläppchen, und ein buntes Tattoo-Geflecht bedeckte ihre Arme wie Ärmel.
Und trotzdem hatte sie einen richtigen Job in einem richtigen Büro in Innenstadtlage mit einem großen, breiten Fenster und obendrein eine Zulassung als Notarin. Wir hatten sie ausgewählt, weil wir wollten, dass unsere Scheidung reibungslos über die Bühne ging. Wir wollten keinen Stress. Wir wollten glauben, dass wir immer noch liebe, nette Leute waren. Dass alles, was wir einander sechs Jahre zuvor gesagt hatten, der Wahrheit entsprochen hatte. Was haben wir noch mal gesagt?, hatten wir uns halb betrunken ein paar Wochen zuvor in meiner Wohnung gefragt, als wir beschlossen, die Sache endgültig durchzuziehen.
»Hier steht’s«, hatte ich gebrüllt, nachdem ich mich durch einen Papierstapel gewühlt und das von uns unterschriebene Ehegelübde gefunden hatte, drei zusammengeheftete, vergilbte Blätter. Wir hatten ihnen eine Überschrift gegeben: Der Tag, an dem die Gänseblümchen blühten. »Der Tag, an dem die Gänseblümchen blühten!«, johlte ich, und wir lachten uns kaputt über uns, über die Menschen, die wir gewesen waren. Und dann legte ich das Gelübde auf den Stapel zurück, in dem ich es gefunden hatte, denn ich konnte nicht weiterlesen.
Wir hatten sehr jung geheiratet, was so wenig zu uns passte, dass sogar unsere Eltern fragten, warum wir denn nicht einfach nur zusammenlebten. Wir konnten nicht einfach nur zusammenleben, obwohl ich damals erst neunzehn und er einundzwanzig war. Wir waren zu heftig verliebt und glaubten, wir müssten zum Beweis dafür etwas Verrücktes tun, also taten wir das Verrückteste, was uns einfiel, und heirateten. Aber selbst verheiratet fühlten wir uns nicht wie ein Ehepaar – wir lebten monogam, aber wir dachten gar nicht daran, uns häuslich niederzulassen. Wir packten unsere Fahrräder in Kartons und flogen damit nach Irland, wo ich einen Monat später zwanzig wurde. Wir mieteten eine Wohnung in Galway, überlegten es uns dann anders, zogen nach Dublin und suchten uns einen Job in der Gastronomie – er in einer Pizzeria, ich in einem vegetarischen Café. Vier Monate später zogen wir nach London und streiften so abgebrannt durch die Straßen, dass wir die Bürgersteige nach Geldstücken absuchten. Schließlich flogen wir wieder nach Hause. Nicht lange danach starb meine Mutter, und wir taten all die Dinge, die uns hierher, in Vals Büro, geführt hatten.
Paul und ich hielten unter dem Tisch Händchen und sahen zu, wie Val systematisch die von uns ausgefüllten Anträge auf eine einvernehmliche Scheidung durchsah. Sie prüfte eine Seite, dann die nächste und so weiter und so fort, um sich zu vergewissern, dass wir alle fünfzig oder sechzig korrekt ausgefüllt hatten. Während sie noch damit
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