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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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ich ihn brauchte. Ein Skistock wie für eine Prinzessin: weiß und mit kaugummirosa Halteschlaufe aus Nylon. Ich ging zur Probe ein paar Schritte damit. Er hatte genau die richtige Länge. Er würde mir nicht nur durch den Schnee helfen, sondern auch durch die vielen Bachfurten und Geröllhalden, die mich ohne Zweifel erwarteten.
    Eine Stunde später stapfte ich mit ihm den Feldweg entlang, der in einem Bogen um den Campingplatz herumführte, und hielt nach Greg, Matt und Albert Ausschau. Es war ein Sonntagnachmittag im Juni, aber der Platz war fast leer. Ich kam an einem Mann vorbei, der gerade sein Angelzeug zusammenpackte, dann an einem Paar mit Kühltasche und Ghettoblaster und gelangte schließlich in eine Ecke, in der Zelte standen. Ein grauhaariger Mann mit nacktem Oberkörper und braungebranntem Bauch saß an einem Picknicktisch und las in einem Buch. Er schaute auf, als ich näher kam.
    »Sie müssen die berühmte Cheryl mit dem Riesenrucksack sein«, rief er mir zu.
    Ich lachte zustimmend.
    »Ich heiße Ed.« Er kam mir entgegen und drückte mir die Hand. »Ihre Freunde sind hier. Sie sind eben zum Laden gefahren – Sie müssen sie knapp verpasst haben –, aber sie haben mich gebeten, nach Ihnen Ausschau zu halten. Sie können da drüben Ihr Zelt aufbauen, wenn Sie mögen. Sie campen alle hier – Greg und Albert und sein Sohn.« Er deutete auf die Zelte um ihn herum. »Wir haben gewettet, wer zuerst hier ist. Sie oder die beiden Jungs aus dem Osten, die hinter Ihnen waren.«
    »Wer hat gewonnen?«, fragte ich.
    Ed überlegte einen Moment. »Keiner«, sagte er und brach in Lachen aus. »Keiner von uns hat auf Sie gewettet.«
    Ich stellte den Rucksack auf den Picknicktisch, schnallte ihn ab und ließ ihn dort stehen, um mir die Mitleid erregende Gewichthebernummer zu ersparen, wenn ich ihn später wieder aufsetzen musste.
    »Willkommen in meiner bescheidenen Hütte«, sagte Ed und deutete auf einen kleinen Klappwohnwagen, aus dem seitlich eine Markise ragte, die eine provisorische Campingküche beschirmte. »Haben Sie Hunger?«
    Auf dem Campingplatz gab es keine Duschen, und so ging ich, während Ed etwas zu essen machte, zum Fluss, um mich zu waschen, so gut es eben ging, wenn man die Kleider anbehielt. Nach den trockenen Landstrichen, die ich durchwandert hatte, war der Fluss wie ein Schock. Und der South Fork Kern River war nicht irgendein Fluss, sondern ein reißender Strom, dessen tosende, eisige Fluten ein deutlicher Hinweis darauf waren,dass weiter oben in den Bergen jede Menge Schnee lag. Die Strömung war so stark, dass ich mich nicht einmal bis zu den Knöcheln hineinwagte, und so strich ich am Ufer entlang, bis ich eine ruhige Stelle mit Kehrwasser fand, und watete hinein. Schon nach kurzer Zeit spürte ich in dem kalten Wasser meine Füße nicht mehr. Ich kauerte mich nieder, befeuchtete meine schmutzigen Haare und schaufelte mir mit den Händen Wasser unter die Kleider, um mich zu waschen. Ich war wie aufgeputscht von dem vielen Zucker, den ich intus hatte, dem Triumphgefühl, es bis hierher geschafft zu haben, und der Vorfreude auf die Gespräche, die ich in den nächsten Tagen führen würde.
    Als ich fertig war, erklomm ich die Uferböschung und ging über eine feuchte und kalte Wiese zurück. Schon von weitem sah ich, wie Ed Schüsseln, Ketchup-Flaschen, Senfgläser und Coladosen von seiner Campingküche zum Picknicktisch trug. Ich kannte ihn erst seit ein paar Minuten, und dennoch war er mir, wie die anderen Männer, die ich kennengelernt hatte, schon so vertraut, als könnte ich mich beinahe blind auf ihn verlassen. Wir setzten uns einander gegenüber, und während wir aßen, erzählte er mir von sich. Er war fünfzig, Hobbydichter und Sommervagabund, kinderlos und geschieden. Ich versuchte, so gemächlich zu essen wie er und immer nur dann einen Bissen zu nehmen, wenn er einen nahm, so wie ich mich ein paar Tage zuvor bemüht hatte, meine Schritte dem Tempo Gregs anzupassen, aber ich konnte nicht. Ich war zu ausgehungert. Im Nu hatte ich zwei Hot Dogs, eine Riesenportion Baked Beans und einen Berg Pommes verdrückt und saß dann da mit Hunger auf mehr. Derweil stocherte Ed eher lustlos in seinem Essen, legte eine Pause ein, schlug sein Tagebuch auf und las mir laut Gedichte vor, die er am Vortag verfasst hatte. Wie er mir erzählte, lebte er den größten Teil des Jahres in San Diego, schlug aber jeden Sommer in Kennedy Meadows sein Lager auf, um die durchkommenden PCT-Wanderer zu

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