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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cheryl Strayed
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beschäftigt war, regte sich in mir eine Art solidarisches Aufbäumen,das mich mit Paul gegen jeden etwaigen Einwand von ihrer Seite vereinte, als beantragten wir, den Rest unseres Lebens zusammenbleiben zu dürfen, und nicht das Gegenteil.
    »Sieht alles gut aus«, sagte sie schließlich und schenkte uns ein schmales Lächeln. Und dann ging sie die Seiten noch einmal durch, zügiger diesmal, drückte ihren großen Notarsstempel auf einige Seiten und schob uns Dutzende anderer zum Unterschreiben über den Tisch.
    »Ich liebe ihn«, platzte ich heraus, als wir fast durch waren, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Es fehlte nicht viel, und ich hätte meinen Ärmel hochgekrempelt und ihr zum Beweis die Kompresse gezeigt, die mein frisches Pferde-Tattoo bedeckte, aber ich stammelte nur weiter. »Ich meine, wir tun das nicht wegen fehlender Liebe, sondern einfach so, verstehen Sie? Ich liebe ihn, und er liebt mich …« Ich sah Paul an und wartete darauf, dass er etwas sagte, dass er mir zustimmte und seine Liebe bekannte, aber er schwieg. »Einfach so«, wiederholte ich. »Damit Sie uns nicht falsch verstehen.«
    »Ich weiß«, sagte Val und schob die rosa Strähne beiseite, sodass ich sehen konnte, wie ihr Blick nervös zu mir hoch sprang und sich dann wieder auf die Papiere senkte.
    »Es ist alles nur meine Schuld«, sagte ich mit erhobener, zittriger Stimme. »Er hat nichts getan. Ich war es. Ich habe mir selbst das Herz gebrochen.«
    Paul legte mir eine Hand aufs Knie, um mich zu trösten. Ich konnte ihn nicht ansehen. Hätte ich es getan, wäre ich in Tränen ausgebrochen. Wir hatten das gemeinsam beschlossen, aber ich wusste: Hätte ich ihn jetzt angesehen und vorgeschlagen, die Scheidung zu vergessen und uns wieder zusammenzutun, hätte er Ja gesagt. Ich sah ihn nicht an. In mir surrte eine Maschine, die ich in Gang gesetzt hatte, aber nicht mehr anhalten konnte. Ich fasste nach Pauls Hand auf meinem Knie.
    Manchmal fragten wir uns gemeinsam, ob vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn nur ein einziges Ereignis nicht eingetreten wäre. Wie zum Beispiel: Hätte ich ihn betrogen, wenn meine Mutter nicht gestorben wäre? Oder: Hätte ich ihn nicht betrogen, hätte er dann mich betrogen? Und was, wenn gar nichts passiert wäre – wenn meine Mutter nicht gestorben wäre und keiner den anderen betrogen hätte? Hätten wir uns dann trotzdem scheiden lassen, einfach weil wir zu jung geheiratet hatten? Wir konnten es nicht wissen, aber wir hätten es gern gewusst. So nahe wir uns auch gewesen waren, als wir noch zusammengelebt hatten, jetzt, als wir nach den Gründen fragten, waren wir uns noch näher. Endlich sagten wir einander alles, Dinge, die so tief gingen, dass wir das Gefühl hatten, sie wären möglicherweise noch nie zwischen zwei Menschen ausgesprochen worden. Wir sagten alles, was schön, hässlich und wahr war.
    »Jetzt, wo wir das alles durchgemacht haben, sollten wir eigentlich zusammenbleiben«, sagte ich halb im Scherz in der zärtlichen Stimmung nach unserem letzten herzzerreißenden Gespräch, bei dem wir unser Innerstes nach außen gekehrt hatten – und bei dem wir endlich entscheiden mussten, ob wir uns scheiden lassen wollten oder nicht. Wir saßen auf der Couch in meiner dunklen Wohnung, hatten den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein geredet und waren, als es dunkel wurde, beide zu erledigt, um aufzustehen und Licht zu machen.
    »Ich hoffe, du kannst es irgendwann mit einer anderen«, sagte ich, als er nicht antwortete, obwohl mir der bloße Gedanke an eine andere Frau einen Stich versetzte.
    »Ich hoffe, du auch«, sagte er.
    Ich saß im Dunkeln neben ihm und wollte glauben, dass ich fähig war, wieder eine solche Liebe wie zwischen uns zu finden, nur ohne sie beim nächsten Mal zu zerstören. Es erschien mir unmöglich. Ich dachte an meine Mutter. An die vielen schrecklichen Dinge in den letzten Tagen ihres Lebens. Kleine schreckliche Dinge. Ihr wirres, delirierendes Gemurmel. Die dunklen Hämatome an den Armen. Ihr Flehen, das nicht einmal ein Flehen um Gnade war, sondern um etwas anderes, das weniger als Gnade war, was immer das sein mochte. Um etwas, wofür wir kein Wort haben. Damals dachte ich, dies wären die schlimmsten Tage, doch als sie starb, hätte ich alles getan, um diese Tage zurückzuholen. Einen kurzen, schrecklichen, wunderbaren Tag nach dem anderen. Vielleicht würde es mir mit Paul ebenso ergehen, dachte ich, als ich an dem Abend, an dem wir die Scheidung

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