Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
anstellte.
Aber idiotisch stellte ich mich an. Als wir die Rechnung bekamen, ein Trinkgeld drauflegten und halbe-halbe machten, blieben mir noch fünfundsechzig Cent.
Nach dem Essen wieder in meinem Zimmer, schlug ich The Pacific Crest Trail, Volume I: California auf und las den Teil über die bevorstehende Etappe. Mein nächster Stopp war ein Ort namens Belden Town, wo mich mein Versorgungspaket mit den zwanzig Dollar erwartete. Ich konnte doch mit fünfundsechzig Cent nach Belden kommen, oder? Schließlich würde ich ja durch die Wildnis wandern und ohnehin kein Geld ausgeben können, sagte ich mir, aber die Angst blieb. Ich schrieb Lisa einen Brief, in dem ich sie bat, von dem bisschen Geld, das ich bei ihr gelassen hatte, einen PCT-Wanderführer über den Abschnitt in Oregon zu kaufen und mir zu schicken und die Pakete für das restliche Kalifornien neu zu adressieren. Ich ging die Liste mehrmals durch, vergewisserte mich, dass alles seine Richtigkeit hatte, stimmte die Entfernungen mit den Daten und Orten ab.
Als ich das Licht löschte und in meinem quietschenden Bett lag, hörte ich, wie auf der anderen Seite der Wand Greg sich in seinem quietschenden Bett bewegte, so nah und doch so fern. In diesem Augenblick fühlte ich mich mit einem Mal so einsam, dass ich vor Kummer am liebsten losgeheult hätte. Ich wusste nicht genau, warum. Ich wollte nichts von ihm, und doch wollte ich auch alles. Was würde er tun, wenn ich an seine Tür klopfte? Was würde ich tun, wenn er mich hineinließe?
Ich wusste, was ich tun würde. Ich hatte es so oft getan.
»Sexuell bin ich wie ein Mann«, hatte ich zu einem Therapeuten gesagt, den ich im Jahr davor aufgesucht hatte, einem gewissen Vince, der ehrenamtlich in einer Community Clinic in der Innenstadt von Minneapolis arbeitete, in die Leute wie ich gehen und für zehn Dollar pro Sitzung mit Leuten wie ihm reden konnten.
»Wie ist denn ein Mann?«, hatte er gefragt.
»Distanziert«, antwortete ich. »Oder jedenfalls viele. Ich bin auch so. Ich kann distanziert sein, was Sex angeht.« Ich sah Vince an. Er war um die vierzig, mit dunklem Haar, das in der Mitte gescheitelt war und wie zwei kleine Flügel sein Gesicht rahmte. Ich machte mir nichts aus ihm, aber wäre er jetzt aufgestanden, hätte das Zimmer durchquert und mich geküsst, so hätte ich seinen Kuss erwidert. Ich hätte alles getan.
Aber er stand nicht auf. Er nickte nur, ohne etwas zu sagen, und in seinem Schweigen schwang Skepsis mit. »Wer hat Sie denn auf Distanz gehalten?«,fragte er schließlich.
»Keine Ahnung«, sagte ich und lächelte so, wie ich immer lächelte, wenn ich mich unbehaglich fühlte. Ich sah ihn nicht direkt an. Stattdessen blickte ich zu dem gerahmten Poster, das hinter ihm hing, ein schwarzes Rechteck mit einem weißen Wirbel darin, der die Milchstraße darstellen sollte. Ein Pfeil deutete auf das Zentrum des Wirbels, und darüber stand: SIE BEFINDEN SICH HIER. Dieses Bild war auf T-Shirts ebenso allgegenwärtig geworden wie als Poster, und ich war immer etwas irritiert, wenn ich es sah, da ich nicht recht wusste, wie ich es verstehen sollte, ob es lustig oder ernst gemeint war, ob es auf die Größe unseres Lebens oder seine Belanglosigkeit hinweisen wollte.
»Mit mir hat nie jemand Schluss gemacht, falls Sie das meinen«, sagte ich. »Ich war immer diejenige, die eine Beziehung beendet hat.« Plötzlich spürte ich, wie mein Gesicht glühte. Ich merkte, dass ich im Sitzen die Arme ineinandergeschlungen und auch die Beine regelrecht verknotet hatte – wie in einer Yoga-Adlerstellung. Ich versuchte, mich zu entwirren und normal hinzusetzen, aber es war mir unmöglich. Widerstrebend sah ich ihm in die Augen. »Kommt jetzt der Teil, wo ich Ihnen von meinem Vater erzähle?«, fragte ich mit einem falschen Lachen.
Für mich hatte immer meine Mutter im Mittelpunkt gestanden, aber in diesem Raum mit Vince spürte ich plötzlich meinen Vater wie einen Pflock in meinem Herzen. Ich hasse ihn, hatte ich als Teenager immer gesagt. Was ich jetzt für ihn empfand, wusste ich nicht. Die Erinnerung an ihn war wie ein Amateurfilm, der in meinem Kopf ablief und dessen Geschichte zerrissen und lückenhaft war. Es gab große dramatische Szenen und unerklärliche, zeitentrückte Augenblicke, vielleicht weil das meiste von dem, woran ich mich noch erinnerte, in meinen ersten sechs Lebensjahren geschehen war. Mein Vater, wie er vor Wut unsere vollen Teller an die Wand warf. Mein Vater, wie er rittlings
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